Kritik:Das wird wieder Kult

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"Candide" am Gärtnerplatz, diesmal in voller Szene

Von Klaus Kalchschmid, München

Leonard Bernsteins durchgeknallte Operette "Candide" nach dem satirischen Roman Voltaires spielte das Gärtnerplatztheater jahrelang erfolgreich konzertant mit den ironischen Zwischentexten von Loriot. Jetzt wagt das Haus eine szenische Aufführung, die dem Affen Zucker gibt und sicher wieder Kult wird, auch wenn sie leider ohne Vicco von Bülow auskommen muss.

Die Seitenwände der Reithalle sind mit den unzähligen Schauplätzen des Stücks wie mit Votivtäfelchen bemalt. Das Orchester sitzt der Zuschauertribüne gegenüber hinter transparenter Gaze, auf die eine altertümliche Weltkarte gemalt ist. In sie schlägt immer wieder schnarrend ein Pfeil ein und markiert die rasant wechselnden Stationen der Handlung. An den Seiten wird das hölzerne Quadrat der Spielfläche ebenfalls von Zuschauern flankiert, dahinter und auf halber Höhe der Tribüne gibt es allerlei Auftrittsmöglichkeiten (Bühne: Rainer Sinell). Adam Cooper, Regisseur und Choreograf, nutzt sie ausgiebig - auch für eine irrwitzige Schlachtszene. Der Chor des Gärtnerplatztheaters erscheint in braunen Kutten oder als weiße Zombies, er verwandelt sich in Soldaten, Spanier, edle Wilde oder Einwohner Eldorados, die verrückteste Szene des Abends, denn die betrunken tanzenden Revue-Inkas mit ihrem silber-roten, riesigen Kopfputz (Kostüme: Alfred Mayerhofer) sind rasend komisch - wie auch das Hantieren mit drei großen roten, goldbehängten Schafen.

Irgendwann erschöpfen sich die Einfälle freilich, mag man nichts mehr hören von Enthauptungen, Folterungen, Misshandlungen, Vergewaltigungen und was Candide (wunderbar naiv und traumhaft schön singend: Gideon Poppe) und seiner Cungegone (in letzter Minute eingesprungen, trotzdem perfekt präsent: Cornelia Zink) in den Dutzend Stationen ihrer Reise rund um den Globus so alles widerfährt, bevor sie sich nahe von Venedig niederlassen. Sie beschließen, mit Loriot zu sprechen, "übermüdet wie sie sind, gleich hier ein Reihenhaus zu erwerben, naturbelassenes Gemüse anzubauen, den Fernseher einzuschalten und nie mehr zu verreisen." Bis dahin wirbelt der großartige Alexander Franzen (Voltaire, Pangloss, Cacambo, Martin) mit enormer singspielender Präsenz durchs Stück, wackelt "The Old Lady" in Gestalt der gepfeffert singenden Dagmar Hellberg über die Planken, sind Juan Carlos Falcón, Holger Ohlmann, Martin Hausberg, Peter Neustifter und viele andere, auch Tänzer, in Mehrfachrollen zu erleben.

Dirigent Marco Comin und das blendend aufgelegte Gärtnerplatz-Orchester haben hörbar Spaß an Bernsteins zündender, alle Genres sprengender, sie aber auch plündernder Musik, die leider am Ende sentimentalisch das Happy Ending auswalzt.

© SZ vom 19.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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