Kritik:Abgründe eines Klassikers

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"Nathan der Weise" am Stadttheater Ingolstadt

Von Florian Welle, Ingolstadt

Neben Elfriede Jelineks "Die Schutzbefohlenen" ist Lessings "Nathan der Weise" das Stück der Stunde. An vielen Häusern steht es auf dem Plan, am Theater Erlangen eröffnete man damit jüngst die Saison. Da Lessings "dramatisches Gedicht" seit dem Wochenende auch am Ingolstädter Stadttheater gespielt wird, kann man gut Für und Wider vergleichen.

In der Tat: Die Unterschiede zwischen den Inszenierungen könnten größer nicht sein. Wo die Erlanger Intendantin Katja Ott den Klassiker artig drei Stunden lang vom Blatt spielen ließ und kaum in den Text eingriff, setzt Marco Štorman in Ingolstadt auf Radikaldekonstruktion. In nicht einmal eineinhalb Stunden legt er so Abgründe frei, die bis dato zugeschüttet waren von der berühmten Ringparabel und dem Gutmenschentum, das sich über die Zeitläufte an sie geheftet hat.

Ott will an die Utopie des religiösen Mit- und Nebeneinanders glauben. Das kann man als naiv abtun, womit man es sich aber zu leicht machte. Denn legitim ist es allemal. Realistischer hingegen ist Štormans Zugriff. Provokativer auch. Schon Lessing deutet an, dass Nathan seine Ringparabel vor allem als rhetorischen Trick begreift, um sich dem Sultan zu entziehen. Trotzdem wird sie immer als Herz des Dramas angesehen. Für Marco Štorman hingegen ist die Parabel nurmehr ein Märchen, das man nicht ernst nehmen kann. Folgerichtig reißt er sie aus ihrem Kontext heraus. Bei ihm steht die Parabel am Beginn. Dort wird sie vom neunköpfigen Ensemble, aus dem kein Schauspieler heraussticht, schnell heruntergeleiert. Nathan ist bloß eine Figur unter vielen. Anschließend turnt man durchs Publikum, verschenkt Umarmungen, und gut ist es.

Dass allerdings überhaupt nichts gut ist, macht die Inszenierung, die munter Textpassagen wie Bauklötze hin und herschiebt oder gleich weglässt, im Weiteren klar. Bis sie nach Turtelei, Disputiererei und Geiferei zum Ende gelangt, an dem nicht Versöhnung steht - sondern Nathans Erzählung vom einstigen Pogrom der Christen gegen die Juden, in dessen Verlauf seine gesamte Familie ermordet wurde. Das geht bei den meisten Inszenierungen fast immer unter im dramaturgischen Durcheinander, das Lessing angerichtet hat. Aber Štorman setzt hier ein Ausrufezeichen. Ohne direkt die Shoah zu erwähnen - was viel zu plakativ wäre -, steckt sie in seiner Interpretation als Fluchtpunkt drin.

Die Inszenierung trägt stark performative Züge und kommt sehr spielerisch und leicht daher, ist alles andere als auf Lärm und Krawall gebürstet. Dazu passt das höchst schlichte Low-Fi-Bühnenbild von Jil Bertermann. Das Naiv-Kindliche ist natürlich gewollt, gehört zum Konzept einer spannenden Dekonstruktion des vermeintlichen Wir-haben-uns-alle-lieb-Klassikers. Während der ersten Proben, so steht es im Programmheft, geschahen die Anschläge von Paris.

© SZ vom 15.12.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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