Konsum trotz Krise:Und der Wagen wird noch immer voll

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Trotz Klagen und Stöhnen der Wirtschaft. Trotz Millionen von Arbeitslosen. Trotz Terrorangst in der U-Bahn: Gekauft wird immer. Und ganz neue Käufertypen treten auf und verändern die Konsumkultur.

Nora von Westphalen

Die Käufer

Schlussverkauf zieht noch immer Kunden, auch wenn er eigentlich abegschafft wurde. (Foto: Foto: AP)

Einen Tag nach den Anschlägen des 11.September forderte New Yorks amtierender Bürgermeister Rudolph Giuliani die New Yorker auf: "Zeigt, dass ihr keine Angst habt! Geht in Restaurants! Geht einkaufen!" Damit sagte er auch: Konsum ist eine Bürgerpflicht. Und der kommen wir alle nach.

Früher nannten junge Mädchen als Hobbys in Poesiealben noch Fahrradfahren, Schwimmen und Tanzen. Heute schreiben sie einfach zärtlich: Shopping. Es hilft gegen Langeweile und Frust. Wir belohnen und trösten uns damit. Es ist sogar eine Lebenseinstellung. "Ich könnte eher ein Jahr nichts essen, bevor ich ein Jahr auf Shoppen verzichten müsste", vertraute unlängst die amerikanische, als subversiv geltende Schauspielerin Zooey Deschanel dem Magazin People an und klang dabei ironiefrei.

Noch kurz vor ihrer Niederkunft soll Britney Spears wie im Rausch Zehntausende Dollars für neue Klamotten herausgehauen haben. Das britische Magazin Harper's Bazaar stellte in einer Studie fest, dass 25 Prozent aller Frauen sich eher Schuhe kaufen würden als ausstehende Rechnungen zu bezahlen. Die Hälfte der 1000 Befragten gab zudem an, mehr als 30 Paar Schuhe zu horten.

Und in Deutschland? Kann auch wieder mehr geshoppt werden. Die Deutschen haben in diesem Jahr deutlich mehr Geld für Konsum zur Verfügung: Die Kaufkraft stieg laut einer Studie der Marketingfirma Acxiom im Vergleich zum vergangenen Jahr um knapp vier Prozent. Danach verfügt jeder Deutsche im Schnitt über ein Jahres-Nettoeinkommen von gut 18000 Euro. Die Hessen verdrängten dabei die Hamburger vom Spitzenplatz der kaufkräftigsten Bundesbürger. Die neuen Bundesländer liegen zwar noch weit unter dem West-Schnitt, holen aber auf. Die Kommunen mit der höchsten Kaufkraft im Bundesgebiet sind übrigens laut GfK Grünwald bei München und Königstein bei Frankfurt am Main.

Lesen Sie über die "Fehlkäufer" und die "Rebellin" auf der nächsten Seite.

Die Fehlkäufer

Der Wagen des Fehlkäufers wird schneller voll als er denkt. (Foto: Foto: AP)

Vieles kaufen wir nicht, weil wir es haben wollen, sondern weil - vermeintlich - der Zeitpunkt günstig ist. Nur vier von fünf Europäern und US-Amerikanern kaufen sich laut Wall Street Journal Kleidung, weil sie sie brauchen. Drei von vier schlagen bei Sonderangeboten zu.

Dagegen spielen Herstellerland oder modische Aspekte nur untergeordnete Rollen. Aus "bei Ikea einen Kleiderschrank kaufen", wird schnell ein Wagen voller Müslikekse, überflüssiger Wassergläser, einer morgen wahrscheinlich schon wieder welken Topfpflanze, Papierservietten für nur 99 Cent.

Was wie und wo angeboten wird - alles Strategie. Doch dieses Wissen schützt uns nicht.

Die Rebellin

Als die 53-jährige Journalistin Judith Levine aus New York im Dezember 2003 entdeckte, dass sie tausend Dollar für Geschenke ausgegeben hatte und ihre Kreditkarte ausgereizt war, zog sie einen Schlussstrich. Sie schwor dem Shopping für ein Jahr ab. Ihr Partner musste das Experiment zwangsläufig mitmachen. Ein Jahr nur das Nötigste. Aber was ist schon das Nötigste, wenn man in New York Journalistin ist?

Levine ist keine konsumverrückte Amerikanerin mit begehbarem Kleiderschrank. Sie ist eine intellektuelle Mittelklasse-Amerikanerin, die der Regierung Bush genauso kritisch gegenüber steht wie MacDonald's. Sie kaufte schon immer wenig, dafür ausgewählt. Für sie gehörte in ihrer Abstinenz die New York Times zum Nötigsten, ebenso Internet-Zugang und spezielles Futter für ihre diabetische Katze.

Wein, französischer Öko-Kaffee und Fitness-Studio dagegen nicht. Auch Kino, Süßes, CDs, Bücher waren verboten. Heraus kamen eine frustrierte Frau und ihr amüsantes Buch: "Not Buying It": "Wenn dieses Jahr mir etwas beigebracht hat", schreibt Levine, "dann das: Ja, auch ich bin ein Shopper."

Was sie noch herausfand: Immer nur zu sich nach Hause einladen und die eigene Bibliothek endlich von vorn bis hinten durchlesen, befriedigt nicht. Kein neues Lokal kennenlernen, keine neue Zeitschrift kaufen können? "Außerhalb der Konsumwelt zu existieren bedeutete, in einer parallelen Realität zu leben, die mit der meiner Freunde und Kolleginnen nichts gemeinsam hatte."

Während im Kino interessante Filme liefen - alle diskutierten über "Fahrenheit 9/11" - sahen sie und ihr Freund Jessica Simpson auf MTV über die Notwendigkeit von 2000-Dollar-Bettwäsche faseln. Das Paar half sich mit Büchereibesuchen und den kostenlosen Filmvorführungen dort; leider nur Retrospektiven.

Levine fühlte sich mehr und mehr ausgeschlossen, wurde immer frustrierter. Da es in Amerika für alles Selbsthilfegruppen gibt, suchte sie eine auf: "The Simple Living Network", ein Netzwerk von Kaufkranken, Schuldnern, New-Age-Leuten und Geizhälsen. Die Leitsätze sind platt: Shopping "entzieht Energie", "gefährdet die Gesundheit" und macht "unglücklich". Das Treffen deprimierte Levine noch mehr.

Levine schlug sich gut. Bis sie eines Tages in einem Second-Hand-Laden stand. Ein halbes Jahr hatte sie jeder Versuchung widerstehen können - und plötzlich schienen ihr ein einfaches Shirt und eine rote Hose lebensnotwendig. "Ich bin wie ein Soldat, der nach langer Zeit sein erstes hausgemachtes Essen bekommt", beschreibt sie den Moment in ihrem Buch: "Ich könnte weinen." Sie kaufte die rührend billigen Kleider. Ihr Versuch scheiterte, aber sie schrieb das Buch. Das nun die anderen kaufen können.

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Die Mittlerin

Susanne Tide-Frater gehört zu den Menschen, die einen Rausch in uns erzeugen können. Sie scheint sich über das Telefoninterview zu freuen: "Shopping ist mein Lieblingsthema", sagt die Deutsche mit mittlerweile leicht englischem Akzent. Mit spektakulären Events und Dekorationen verhalf sie als Kreativ-Direktorin dem angestaubten britischen Warenhaus Selfridges zu neuem Glanz.

2004 wechselte sie zum Konkurrenten Harrods. Gerade hat sie sich als Markenberaterin in London selbstständig gemacht. Jeder besitzt im Grunde schon alles, also muss die Kauflust des Kunden auf raffinierte Art und Weise angeregt werden. Er muss überzeugt werden, dass er trotzdem und unbedingt und sofort genau das braucht. Und wie?

"Bis zum Ende der neunziger Jahre reichte ein dickes Werbebudget, um ein Produkt groß zu machen. Heute muss man eine Wunder-Waren-Welt kreieren. Shopping konkurriert heute mit Theater, Sport und Kunst. Nicht kulturell, aber als Freizeitbeschäftigung. Aber der Kunde lässt sich auch so einfach nicht austricksen." Presse und PR hätten nur bedingten Einfluss, wenn das Produkt schlecht sei. Das sei Punkt eins.

Punkt zwei: die Präsentation. Architektur, Einrichtung, Anordnung der Waren bis zu deren Zusammenstellung und den Outfits der Verkäufer - das spielt nicht nur mit, sondern wird fast ebenso wichtig wie die Ware selbst. Die zahlungskräftige Zielgruppe wohnt schließlich edel und erwartet Entsprechendes von ihren Konsumstätten. Rem Koolhaas entwarf den New Yorker Prada Flagshipstore. Thomas Heatherwick, bekannt durch seine "Rolling Bridge" in London, nahm sich in New York den Laden der Taschenmarke Longchamp vor.

Das Schwierigste aber sei Punkt drei: Das Produkt zum Leben erwecken. "Ein Rock von Alexander McQueen ist nicht nur ein Rock. Abgefahrene Modeshows, Rebellentum, Unangepasstheit - alles Teil der Kaufentscheidung." Hat man ihn dann an der Angel, beobachtet man ihn: Wer ist der Kunde? Wie sieht er aus? Wie ist sein Lebensgefühl? "Ich bin ständig dabei, Menschen zu beobachten. In der Stadt, in Cafés, auf Reisen."

Veranstaltungen mit persönlichen Einladungen geben Kunden das Gefühl dazuzugehören, Teil einer Gemeinschaft zu sein.

Eine besonders erfolgreiche Taktik verfolgt laut Tide-Frater Computer-Spezialist Apple. Mac-User sind treue Fans. Im New Yorker Apple-Store treffen sich Gleichgesinnte, wie sonst im Internet, in der hauseigenen Bar. "Das funktioniert wie ein Nachbarschaftscafé", so Tide-Frater. "Die übliche Verkäufer-Kunden-Beziehung wird dabei fast aufgehoben."

Die Zukunft sieht Tide-Frater im Neo-Konservativismus. "Zurück zu alten Werten, aber auf eine nicht konservative Art und Weise. Eine unsichere Welt verlangt nach etwas Wahrem." Auch wenn das Internet immer wichtiger wird - deutsche Verbraucher haben im ersten Halbjahr 2006 mehr als 7,2 Milliarden Euro für Internetwaren und -Dienstleistungen ausgegeben - es hat Nachteile: "Es ist kalt. Der persönliche Kontakt, das Anfassen, all das fällt weg."

Lesen Sie über die "Profiteure" auf der nächsten Seite.

Die Profiteure

Die Zukunft, da ist sich der Trendforscher und Autor des Buches "Futureshop" (von November an im Finanzbuch Verlag), Daniel Nissanoff, sicher, macht uns zu Kurzzeitbesitzern. Das Internet bietet die Möglichkeit, alles, was wir nicht mehr haben wollen, zu verkaufen, um es gegen die Dinge, die wir uns wirklich wünschen, einzutauschen. "Dieser Lebensstil macht den temporären Besitz zur Norm." "Auktionskultur" nennt er das.

Er prophezeit eine Welt, in der es ganz normal ist, seinen iPod nach einem Jahr weiterzuverkaufen. Oder Jimmy-Choo-Schuhe für 800 Dollar nach zweimaligem Tragen weiterzuversteigern. Die Industrie wird umdenken: "Hersteller von Mobiltelefonen werden uns alle sechs Monate automatisch die neuesten und technisch raffiniertesten Mobiltelefone zusenden."

Ebay Deutschland verkauft schon heute jede Sekunde ein Kleidungsstück. Doch nur fünf Prozent der Nutzer, die schon einmal etwas dort kauften, haben je selber etwas verkauft. Clevere Geschäftemacher haben diese Hemmungen erkannt und bieten in sogenannten Drop-Shops Verkaufshilfe. "Unsere Besitztümer, vielleicht sogar unsere neuesten und liebsten Anschaffungen, werden zu handelbaren Vermögenswerten." Je hochwertiger die Ware, desto höher der Gewinn beim Wiederverkauf.

Statt Dinge kaufend in Besitz zu nehmen, lohnt sich, wie bei Autos schon lange üblich, Leasing. "Wenige Menschen, die ein neues Auto haben wollten, konnten es sich leisten, ihr altes im Hof verrosten zu lassen. Mit dem Leasing entstand das revolutionäre Konzept des temporären Automobilbesitzes sowie die Perspektive, ein Auto fahren zu können, das zu teuer war, als dass man es auf einen Schlag hätte bezahlen können."

Eine Rolex zu leasen wird bald genauso normal sein wie die gemieteten Skier im Urlaub. Oder eine Frau, die dank Handtaschen-Leih-Abo jeden Monat eine neue Luxus-Handtasche am Arm trägt. Das geht schon heute, sogar bei uns in Deutschland: über luxusbabe.de.

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