Kirchliche Kunst:Wie der Ochs vorm Berg

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Christliche Darstellungen bleiben vielen Menschen oft rätselhaft, weil das Wissen über die Ikonografie über die Jahrzehnte verloren gegangen ist

Von Sabine Reithmaier

Einige Figuren erkennen wir noch sicher: Jesus und Maria, vielleicht noch Maria Magdalena und den heiligen Sebastian, weil er immer halb nackt von Pfeilen durchbohrt ist. Aber dann wird es schon schwierig mit der christlichen Ikonografie, nicht nur bei den Heiligen. Außer ihnen schwirren auch jede Menge Tiere durch die sakrale Kunst. Gut identifizierbar noch die Taube, die den heiligen Geist symbolisiert; aber was bedeuten Ochs und Esel an der Krippe? Und was hat es mit den Pflanzen auf sich? Irgendwie ist uns in den letzten Jahrzehnten ein Wissen verloren gegangen, über das frühere Generationen noch ganz selbstverständlich verfügten.

"Wir gehen noch in dieselben Kirchen - wenn auch nur noch als Connaisseure -, hören noch dieselbe Liturgie und feiern noch dasselbe Kirchenjahr, auch wenn die Feiertage nicht mehr wissen, was gefeiert wird. Wir sind noch Teil derselben symbolischen Ordnung wie damals, aber ihre Bedeutung kennen wir nur noch vage." So hat Michael Hofstetter, Künstler, Kunsttheoretiker und Dozent an der Akademie der Bildenden Künste München, die Situation in einem Text zusammengefasst, den er 2012 zur Diplomarbeit "Retable 2012" von Verena Frensch schrieb, einer Übersetzung des berühmten Isenheimer Altars in die Jetztzeit. Frensch hat in ihren drei hintereinander gestaffelten Altarbildern die Heiligenfiguren durch Pop-Ikonen und Berühmtheiten aus Politik, Musik und Psychologie ersetzt und - auf der zweiten Tafel - statt der Heilsgeschichte eigene biografische Erfahrungen eingefügt. Das Werk polarisierte die Betrachter ungemein, erinnert sich Hofstetter. Die einen waren begeistert, die anderen fanden es furchtbar und bezeichneten es als Kitsch.

Dabei muss ein religiöses Werk gar nicht aus der Jetztzeit sein, um Menschen zu spalten. Christoph Kürzeder, Leiter des Freisinger Diözesanmuseum, weiß das seit der "Seelenkind"-Ausstellung im Jahr 2012, als die Besucher auf die "Seelentrösterlein" der Nonnen, wie die kleinen Jesuskind-Skulpturen genannt werden, extrem unterschiedlich reagierten. Die Palette der Gefühle reichte von Begeisterung bis hin zu Abscheu. "Die Pupperl schaffen es bis heute, Emotionen zu wecken", sagt Kürzeder. Freilich wenn man durch den Ausstellungskatalog blättert, sieht man in Zeiten der kirchlichen Missbrauchsdebatten manche Bilder tatsächlich mit gewissem Unbehagen, den Antonius etwa, der den Arm des Jesusknaben zärtlich abschmust. "Geht gar nicht mehr", sagt Kürzeder. Grundsätzlich lasse sich heute die Relevanz von Bildern nicht mehr aus einer automatisierten religiösen Handlung erklären, sondern sie müsse für den Zeitgenossen wieder erschlossen werden. "Aber auf Relevanz verzichten, kann man nicht. Sonst hört man die Geschichte und vergisst sie wieder." Früher, so erzählt er, sahen sich Kunsthistoriker bei Bewerbungsgesprächen im Diözesanmuseum einem Stapel Postkarten mit Heiligenfiguren gegenüber, mussten Entstehungszeit und Stil kennen und sie anhand ihres Attributs bestimmen. "Das haben wir aufgegeben, das geht nicht mehr."

Verena Frensch hatte in ihrer Diplomarbeit "Retable 2012" den berühmten Isenheimer Altar in die Jetztzeit übertragen. (Foto: Retable 2012, 2011 / Verena Frensch)

Abiturienten kämen heute nicht mehr mit großen kunsthistorischen Kenntnissen an die Akademie, sagt auch Hermann Pitz, Professor für Bildhauerei an der Münchner Akademie. Aber das liege daran, dass der Kunstunterricht im Lehrplan inzwischen generell zu kurz kommt. "Dafür bringen sie ersatzreligiöse Bildwelten mit, etwa aus Kultfilmen wie 'Krieg der Sterne'." Christliche Kunst als eigenes Fach existiert an der Akademie nicht. Oder jedenfalls nicht mehr, denn früher gab es einen eigenen "Lehrstuhl für christliche Kunst - farbliches und räumliches Gestalten, insbesonders an Kulträumen". Als erster Professor saß von 1978 an Franz Bernhard Weißhaar, Theologe und Maler, auf diesem Stuhl. Die Berufung war umstritten. "Eine ziemliche Zerreißprobe für die Akademieleitung, die mit einer tollen Künstlerliste angetreten war", berichtet Akademiepräsident Dieter Rehm. Sogar der Deutsche Künstlerbund schaltete sich protestierend ein. Umsonst, der damalige Kultusminister Hans Maier drückte den bewährten Theologen durch.

Im Rückblick betrachtet sei aber eine sehr lebendige Klasse entstanden, aus der interessante Künstler hervorgingen wie etwa Thomas Demand, sagt Rehm. 2000 folgte auf Weißhaar Spurensicherer Nikolaus Lang; in einer ersten Umbenennung des Lehrstuhls wurde die christliche Kunst durch Malerei ersetzt, allerdings noch in Verbindung mit der Gestaltung von Kulträumen. 2008 kam Karin Kneffel als Professorin für Malerei und Grafik auf diesen Stuhl, der religiöse Zusatz ist seither - zumindest auf der Internetseite der Hochschule - verschwunden.

Dabei wäre es ein interessantes und wichtiges Feld, bedauert Rehm. In der Kunstgeschichte werde christliche Ikonografie natürlich unterrichtet. Vizepräsident Hermann Pitz unternimmt mit den Studierenden regelmäßig Exkursionen. Vor zwei Wochen erst besichtigte er mit ihnen die Wieskirche und Ettal, in erster Linie um zu studieren, wie das Tageslicht in die barocken Räume einfällt. Und um den Studierenden klarzumachen, dass elektrisches Licht in diesen Kirchen nichts verloren hat. "Alles außer Kerzen ist hier Unfug." Die chinesische Studentin aus dem zweiten Semester fragte ihn trotzdem, welchen Grund es für die Fahrt überhaupt gebe. Sie wurde über Raummodelle und Lichtwirkungen aufgeklärt, hörte von barocken Utopien im Diesseits und erfuhr, wie sich in der Wieskirche die Sphären mischen und teilen.

Im aktuellen heterokulturellen Raum und angesichts der postkolonialistischen Diskurse sei es schwierig, den Studierenden zu sagen, besinn' dich auf deine Wurzeln, bleib' in deiner Tradition, sagt Hofstetter. Wer christlich aufgewachsen ist, sollte seiner Ansicht nach mit christlichen Vokabeln seine Kunst gestalten, ein Hindu mit hinduistischen und so fort. "Ich muss mich in meiner symbolischen Ordnung bewegen, sonst werde ich nicht verstanden, die Kunst kennt dann ihren eigenen Horizont nicht." Aber das sei vielen Künstlern nicht wichtig. "Mindestens 50 Prozent unserer Kollegen sind Handwerker zur Dekoration des Kapitalismus, die wollen Karriere machen innerhalb des gegebenen Systems", kritisiert er. Die Sinnfrage sei zweitrangig, erwünscht sei eine geschlechts- und identitätslose Kunst, die nicht wehtue und keine Hierarchien schaffe. Passend für einen Kunstmarkt, der Werke benötige, die in Wladiwostok genauso funktionieren wie in Miami oder Tokio und Paris. Der White Cube als neutrales Gehäuse garantiere, dass die Kunst immer unverändert aufgeführt wird. "Und nicht verunreinigt wird durch irgendwelche Rituale, die daneben stattfinden."

Seitdem Kasimir Malewitsch sein "Schwarzes Quadrat" genau an die Stelle hängte, wo bis dahin die russischen Ikonen platziert waren, also schräg oben in die Wandecke unter der Raumdecke, gelte es für moderne Künstler als anrüchig, mit Kirchenvätern zusammen gesehen zu werden, spöttelt Hofstetter. Die Moderne sei eben angetreten, um alles auszuradieren, was bis zu diesem Zeitpunkt Geltung hatte. Das hat die Postmoderne längst relativiert. "Zumindest soziologisch sind wir weiter eine Glaubensgemeinschaft", sagt Pitz. "Wir glauben an die hervorragende Kraft eines Künstlers oder eines Kunstwerks." Die Reisen zu Documenta oder Biennale sind für ihn nichts anderes als Wallfahrten zu Gnadenbildern.

Schlechte Zeiten also für sinnstiftende, religiöse Kunst? Kein Grund in Kulturpessimismus zu verfallen, sagt Museumschef Kürzeder. Die Rezeption von Bildern sei immer zeitabhängig, die Intention der jeweiligen Zeit müsse oft erst wieder ausgegraben werden. "Ein Bild kann mich emotional ergreifen, aber ich muss den Horizont verstehen." Eine dogmatische Sehschule lehnt er aber ab. "Man soll die Dinge im Kontext erschließen, die Dinge als relevant erkennen für sich selbst." Problematisch sei eher, dass Geschichten heute nicht mehr zu Ende erzählt würden. "Wir erkennen bloß noch Fragmente. Und denken trotzdem, wir haben alles erfasst."

Den heiligen Sebastian erkennen die meisten Betrachterganz gut, weil er immer halb nackt von Pfeilendurchbohrt dargestellt ist. "Der heilige Sebastian, von Irene gepflegt" von Hendrick ter Brugghen gemalt, ist in der aktuellen Ausstellung "Utrecht,Caravaggio und Europa" in der Alten Pinakothekin München zu sehen. (Foto: Allen Memorial Art Museum, Oberlin College, OH.R.T.Miller Jr.Fund, 1953.256)

Kürzeder schickt bei jedem Zahnarztbesuch noch ein Stoßgebet zu Apollonia, eine Heilige, deren Bild die wenigsten noch vor Augen haben. Aber Kürzeder verfügt noch über gewachsene religiöse Bildwelten, saß als Kind regelmäßig in einer Kirche, in der eine Appollonia stand. Mit hocherhobener Zange, darin eingezwickt einen ihrer Zähne, wenige Sekunden vor dem Moment, in dem sich die Frau aus Alexandria im Jahr 248 ins Feuer stürzte, um ihren Peinigern zu entgehen. Und die noch junge Kirche damit vor die Frage stellte, ob das jetzt ein Selbstmord oder ein Martyrium war.

Ochs und Esel gehören zwar noch zur idyllischen Weihnachtsszenerie, haben ihre gleichnishafte Bedeutung aber längst verloren. In den Evangelien tauchen sie nicht auf, dafür in alttestamentlichen Weissagungen. Die Kirchenväter Ambrosius und Augustinus interpretierten den Stier als Sinnbild für das Judentum, während der Esel für die Heiden stand. Aber das muss man wirklich nicht wissen.

© SZ vom 20.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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