Kino: "X-Men":Damenwahl. Ausgerechnet jetzt!

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Onkel und Mutanten im Weißen Haus: Bryan Singers "X-Men" ist politische Fantasy in Reinkultur. Und auch ein Abgesang auf die Wonnen des Familienglücks.

FRITZ GÖTTLER

Verwirrung im Weißen Haus. Ein unheimlicher Eindringling hat sich in einer Gruppe Besucher eingeschmuggelt. Ein schemenhaftes Wesen, das mehr zu ahnen als zu sehen ist. Ein Mutant, der die Gabe besitzt die Gestalt zu wechseln, die äußere Erscheinung. Der den Präsidenten in seinem Office zu attackieren gedenkt und dabei nicht aufzuhalten ist.

(Foto: SZ v. 30.04.2003)

Die Politik muss reagieren auf diesen skandalösen Zwischenfall zu Beginn des zweiten "X-Men"-Films. Das neue Gesetz, der Mutant Registration Act, muss endlich durchgebracht werden, das jeden Mutanten, jedes genetisch absonderliche Geschöpf mit übermenschlichen Fähigkeiten - Augen, die Feuer aussenden, Gesten, die zeitliche Abläufe manipulieren - zu eliminieren gestattet. Der Radikale William Stryker (Brian Cox) steckt hinter dieser Operation, Militär und Wissenschaftler, aber auch getrieben von einer privaten Obsession. Er inszeniert eine Attacke auf das menschenfreundliche Mutanten- Internat. Ist "X-Men" die finstere Variante der Hogwarts-Epen?

Ist Amerika das Reich des Rassismus? Die Ausgestoßenen sind seit langem die Helden des Horrorfilms, das macht ihn zum politischen Kino par excellence. Er steht auf der Seite der verstoßenen Kinder - von denen die Gefahr ausgeht für die Ordnung und für die, die von ihr profitieren, im wirtschaftlichen, aber auch im Seelenhaushalt. Für Stan Lee, den Herrscher des Marvel-Comic-Imperiums, Vater der "X-Men", sind sie Enkel der amerikanischen Pioniere, fürs europäische Publikum scheinen eher die Märchen-Spezial-Teams durch, Modell Bremer Stadtmusikanten. Mit Wolverine (Hugh Jackman) als neuem spiritus rector.

Action ist Existenz in diesem Film, der neue Film bringt die Geschichte zwischen Menschen und X-Men und X-Women nicht wirklich voran, er geht in die Tiefe, lotet sie philosophisch aus. "Der Körper beherbergt die Seele", schreibt Derrida, der Philosoph des Fremden, "er erweist ihr seine Gastfreundschaft und nimmt sie bei sich auf. Aber wie ist diese Topologie des Wohnens im Fall der Freundschaft zu denken? ,Was ist ein Freund?' Antwort: , Eine Seele, die in zwei Körpern wohnt.'"

Wolverine ist der Freund, der Held des Zyklus, weil er seine Herkunft sucht, und darüber die Liebe zu Jean (Famke Janssen) zu verspielen droht. Mit genialem Gespür hat ihn Bryan Singer den beiden großen Kino-Vätern der letzten Dekade konfrontiert, Patrick Stewart, aus der Star-Trek-Serie, als Professor Xavier, und Ian McKellen, aus "Herr der Ringe", als eisenmanipulierender Magneto, der unter Verschluss gehalten wird im Plastikgefängnis, aber angesichts der Bedrohung durch die stupid white men in Washington bereit ist zur Kooperation.

Multiple Persönlichkeiten, Gruppenbildung, Freundschaft: "Sie gibt uns", fährt Derrida fort, "zu denken auf, dass ein Freund, da mehr als einen, niemals einen eigenen Ort hat. Er sollte nicht darauf vertrauen, in der ökonomischen Intimität irgendeines ,Zuhauses' Ruhe oder Nahrung zu finden. Stets könnte der Körper des Freundes, könnte sein eigener Körper der Körper des anderen sein. Er haust in ihm wie ein Gast, ein Besucher, ein Reisender, ein zeitweiliger Insasse. Die Freundschaft ist unheimlich ..."

Wer darf und wann sich zugehörig fühlen? Die Akteure der "X-Men" sind Stars geworden in den Jahren nach dem ersten Teil, das verändert den Blick, mit dem wir den neuen Abenteuern folgen. Nach dem Oscar hält sich Halle Berry als Storm merklich zurück - wird sie demnächst verschwinden aus dem Team? Und wie wird es den Verlust kompensieren? Nach der "Femme Fatale" von Brian de Palma berührt die Wechselhaftigkeit der blauhäutigen Rebecca Romijn-Stamos als Mystique besonders, diese Sehnsucht nach Sicherheit, nach etwas, das bleibt. Neu ist der Nightcrawler, der sich per Teleport bewegt, gespielt vom schwulen Alan Cumming, der seine Rollen in Mega-Actionspektakeln wie "X-Men" oder "Spy Kids" nutzt, um Kapital zu gewinnen für persönliche Projekte. Das ist die Generosität von Hollywood, das Leute ausbeutet, aber auch bereit ist, ihre Sehnsucht nach Freiheit zu akzeptieren. Es ist die Wollust der Beweglichkeit, die der Film feiert, am schönsten immer dann, wenn die Mutanten sich ein wenig genieren ob ihrer Flexibilität. Sie zahlen dafür mit Angst vor der Erstarrung, vor Vereisung und Vereinsamung. Ja, es gibt auch hier Momente der Häuslichkeit: gemeinsamer Familientisch, die besorgten Gesten der Mutter, die Bewegung, mit der man die Gardine beiseite schiebt, für einen Blick nach draußen, aus dem Zimmer, in dem man als Teenager lebte.

Es sind am Ende nicht die mutierten Kinder, die Misstrauen erregen. Es sind die Kinder an sich - die von Natur aus die anderen sind und den Platz einnehmen werden, den jetzt noch die Eltern besetzen. Die einem seine Sterblichkeit bewusst machen und die Ohnmacht der Erinnerung. Um diesem Faktum seine Aggressivität zu nehmen, träumt "X-Men" am Ende den Traum von einer Sintflut.

Feine Risse zeigten sich in dieser Gesellschaft schon am Anfang. Und gespenstisch war in den heiligen Hallen, wo der US-Muggel-Präsident residiert, nicht das Eindringen des Crawlers. Der Ort ist seit langem phantomhaft - durch die Mutanten der Macht, die sich dort heimisch gemacht haben. Die phantasievolle Namen tragen wie Condy Rice, Rummy oder Wolfowitz.

X 2, USA 2003 - Regie: Bryan Singer. Drehbuch: Michael Dougherty, Dan Harris. Kamera: Newton Thomas Sigel. Musik: John Ottman. Schnitt: John Ottman, Elliot Graham. Mit: Patrick Stewart, Hugh Jackman, Ian McKellen, Halle Berry, Famke Janssen, Rebecca Romijn-Stamos. Fox, 138 Minuten.

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