Junges Schauspiel:Daheim in der Fremde

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Kraftvolles Statement: Jugendliche beim Jugendtheater-Festival. (Foto: Sandra Singh)

Das Festival der bayerischen Theaterjugendclubs am Residenztheater gibt sich betont politisch

Von Judith Nikula, München

Es ist der 24. August 1992. Vor einem Wohnheim für Gastarbeiter in Rostock-Lichtenhagen haben sich Tausende Menschen versammelt. Sie demonstrieren. Sie sind aufgebracht. Sie schmeißen Steine und Bierdosen, dann explodieren Molotow-Cocktails. Ängstlich klammern sich die Gastarbeiter im Wohnheim aneinander, beobachten den rechtsradikalen Mob, fürchten um ihr Leben. Mitten in der Menge wütet eine Gruppe betrunkener Jugendlicher: Martin und seine Freunde sind arbeitslos, fühlen sich von der Gesellschaft allein gelassen und pöbeln aus Langeweile gegen Ausländer. Auf der Bühne im Marstall steht dichter Rauch, als die Schauspieler vom Jungen Residenztheater unter der Regie von Anja Sczilinski "Wir sind jung. Wir sind stark" aufführen. Mit einem eindrucksvolleren Stück hätte das zehnte Treffen bayerischer Theaterjugendclubs kaum beginnen können. Voller Energie steht das junge Ensemble bei dem Nachwuchsfestival auf der Bühne, spielt so authentisch, dass sich die Zuschauer in den vorderen Reihen tatsächlich eingeschüchtert fühlen, wie später auf einem Plakat zu lesen sein wird, das Meinungen zu jeder Aufführung der Veranstaltung festhält. Vier Tage lang waren 14 Theaterjugendclubs mit ihren aktuellen Produktionen in München zu Gast, darunter "Wir gingen, weil alle gingen" vom Staatstheater Nürnberg, "Eiland" vom Theater Augsburg oder "Fremd ist der Fremde nur in der Fremde" vom Theater Regensburg.

Mehr als 20 Theaterjugendclubs haben sich in diesem Jahr um eine Teilnahme beworben. Die Produktionen, die schließlich nach München eingeladen wurden, seien größtenteils politisch engagiert, wie Anja Sczilinski von der Festivalleitung, betont. So auch "Dadortdaheim" vom Jugendclub des Stadttheaters Amberg, ein Stück, das aushandelt, welche Bedeutung der Begriff Heimat haben kann. Regisseur Winfried Steinl hat gemeinsam mit dem Ensemble ein "Kaleidoskop der Heimat" entwickelt, das neben literarischen Texten von Kafka und Nietzsche auch die Erfahrungen der Schauspieler selbst verarbeitet. Fünf von ihnen sind vor eineinhalb Jahren aus ihrer Heimat im arabischen Raum vor dem Bürgerkrieg geflohen. Für Ahmad aus dem Irak und Abdul Aziz aus Syrien ist das Amberger Theater nun wie eine Ersatzfamilie.

Als die beiden Schauspieler ihre Flucht auf der Bühne inszenieren, herrscht Stille im Cuvilliéstheater. Eindringlich spiegelt sich die Angst auf den Gesichtern der jungen Männer, das Dröhnen eines Hubschraubers erklingt, dann sind explodierende Bomben zu hören und die Freunde, die zuvor noch fröhlich gelacht haben, liegen auf dem Boden der Bühne. Als der Angriff endet, springen sie hektisch auf und greifen nach ihren Reisekoffern, bereit das Land zu verlassen. Die Zuschauer danken dem Ensemble mit stehenden Ovationen.

Großartige Stücke und beeindruckende schauspielerische Leistungen sind auf dem Festival zu sehen. Die Jugendlichen wollen sich engagieren, sind kritisch und geben sich konstruktives Feedback, denn nicht jedes Theaterstück wird positiv aufgenommen. Zu Recht beklagen einige der Teilnehmer, dass die Inszenierung von "Der Glöckner von Notre Dame" aufgesetzt und hölzern wirkt. "Wir sind Jugendliche und ich hätte mir mehr erhofft", ist nach der Aufführung auf dem Marstallplatz zu hören. Dann erklingt Elektroswing und Musik der Bloodhound Gang aus den Boxen im Festzelt. Es ist Zeit für das gemeinsame Abendessen.

Zum Abschluss der Veranstaltung ist Anja Sczilinski zufrieden: "Die jungen Theatermacher haben das Publikum begeistert, zu Tränen gerührt, irritiert, Fragen gestellt, Lebensmodelle entworfen und verworfen", sagt sie. Und auch die Schauspieler selbst freuen sich über die gesammelten Erfahrungen in München. Über "sehenswertes Theater", wie Kai aus Nürnberg feststellt und über neue Freundschaften. Ahmad aus dem Amberger Ensemble möchte auf jeden Fall nach München zurückkehren. Nicht zuletzt, weil er in der Nähe des Hauptbahnhofs ein irakisches Restaurant gefunden hat, das ihn an seine Heimat erinnert.

© SZ vom 13.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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