Jubiläum:Theater als gelebte Utopie

Lesezeit: 3 min

Ariane Mnouchkine ist sichtbar eine strenge Prinzipalin. (Foto: dpa)

Zum 80. Geburtstag der grandiosen Regisseurin Ariane Mnouchkine, der Gründerin des Théâtre du Soleil.

Von Joseph Hanimann

Wie eh und je steht sie weiterhin jeden Abend am Theatereingang und empfängt persönlich ihre Zuschauer. Zum ersten Mal tut sie das aber in diesen Wochen, ohne dass ein Stück von ihr selber auf dem Programm steht. Doch sollen daraus keine falschen Schlüsse gezogen werden. Der Regisseur Robert Lepage, dem Ariane Mnouchkine ihre Truppe des Théâtre du Soleil für die Inszenierung des Stücks "Kanata" anvertraut hat, will sie nicht beerben. Von Rückzug kann bei dieser Frau keine Rede sein. Zu sehr ist dieses Theater mit ihrer Person verbunden, als dass die beiden getrennte Wege gehen könnten.

Dennoch ist das seit Dezember laufende Stück "Kanata" über die Nachkommen der kanadischen Ureinwohner ein Test, ob das aus aller Welt zusammengewürfelte Ensemble des Théâtre du Soleil sich auch für andere Regiestile eignet. Und das tut es weitgehend. Die epische Breite des Spiels, die elegant fliegenden Szenenwechsel, die magischen Bilder, das Hin und Her zwischen Burleske und Ernst sind tief genug in den großen Traditionen des Welttheaters zwischen Orient und westlicher Moderne verwurzelt, um für fast alle Stilrichtungen der Bühne etwas herzugeben. Nur kann die Truppe auch unter fremden Regisseuren die Prägung durch die Meisterin nicht ganz verleugnen.

Als ein zeitgenössisches "Volkstheater" bezeichnet Ariane Mnouchkine manchmal ihr 1964 mit einer Schar Gleichgesinnter begonnenes Abenteuer: ein Unternehmen aus dem heiteren Geist der Studentenbewegung, das alle Enttäuschungen und Katastrophen überlebt hat. Es begann mit Stücken von Shakespeare und Gorki, weitete sich mit "1789" oder "L'Âge d'or" bald auf kollektiv erarbeitete Projekte aus und schloss unter Beihilfe der Schriftstellerin Hélène Cixous auch Zeitgeschichtsfresken wie "Norodom Sihanouk", "L'Indiade", "La Ville parjure" ein. Repertoirestücke wie Kollektivproduktionen stellen am Théâtre du Soleil stets den Bezug zur jeweils politischen Gegenwart her, zum verlogenen Religionseifer bei Molières "Tartuffe" 1995, zur Migrantensituation in "Le dernier Caravansérail" 2003 oder zu den Techno-Utopien in der Jules-Verne-Bearbeitung "Les Naufragés du Fol Espoir" 2010. Das abschätzige Lächeln, das manchen Zuschauern angesichts des politischen Überzeugungsdrangs der Ariane Mnouchkine im Lauf der Jahre auf die Lippen kam, erstarrte dort zum bloßen Vorurteil. Denn Mnouchkines Theater ist vitaler als solche Vorurteile, und das Publikum kommt seit Jahrzehnten zahlreich durch den Pariser Stadtwald von Vincennes in die Lichtung der Cartoucherie, dem legendär gewordenen Spielort des Theâtre du Soleil.

Politische Positionen werden nicht einfach auf der Bühne behauptet, sondern durch Lebensformen, Manifeste, Aktionen, manchmal sogar durch Hungerstreiks praktisch verbürgt.

Unter dem strengen Regime der Chefin ist dort eine Theaterutopie Wirklichkeit geworden. Das in den Stücken manchmal etwas aufdringlich vorgebrachte Plädoyer für Toleranz und allgemeine Menschlichkeit wird getragen von einem im Alltag praktizierten Arbeitsprinzip, dem Respekt gebührt. Aufreibende kollektive Probenarbeit über lange Monate hin, kommunenhaftes Gemeinschaftsleben, Verzicht auf Starkultur, gleiche Entlohnung für alle sind die Grundsätze, von denen Mnouchkine nie abgerückt ist. Was bei anderen Experimenten aus den Sechziger- und Siebzigerjahren sich allmählich zum Standard des normalen Theaterbetriebs abgeschliffen hat, erwies sich in der Cartoucherie als dauerhaftes Modell. Politische Positionen werden nicht einfach auf der Bühne behauptet, sondern durch Lebensformen, Manifeste, Aktionen, manchmal sogar durch Hungerstreiks praktisch verbürgt.

Gut zwei Dutzend Produktionen sind es in den gut fünfzig Jahren insgesamt geworden: ein Stück alle zwei oder drei Jahre. Das ist nicht viel. Es ist aber der Preis für eine Art des Theaterspiels, die Routine und schnellen Tourneebetrieb nicht kennt. Langzeitaufenthalte der ganzen Truppe während der Proben im Kulturraum des jeweiligen Stücks sorgen für Austausch und Gegenseitigkeit. Der Umbau von Foyer und Bühne in der Cartoucherie für jede neue Produktion macht aus den Aufführungen ein Fest. Das schließt gelegentliche Inspirationspannen nicht aus. Bei der letzten Eigenregie von Ariane Mnouchkine fürs Stück "Une chambre en Inde" 2016 saßen die Schauspieler mehrere Wochen lang während eines Inspirationsausfalls in Indien fest.

Zum Fabrikationsgeheimnis der Truppe gehört es, die auftretenden Schwierigkeiten mit ins Stück aufzunehmen, wie bei Robert Lepages Inszenierung von "Kanata", die dem Théâtre du Soleil den Vorwurf des Neokolonialismus einbrachte, weil sie das Schicksal der kanadischen Völker von lauter Ausländern spielen ließ. Von solchen Anschuldigungen lässt Ariane Mnouchkine sich nicht mehr beeindrucken. Sie, die an diesem Sonntag ihren 80. Geburtstag feiert, kann die Konstanz ihres künstlerischen und politischen Engagements sprechen lassen.

© SZ vom 01.03.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: