Jubiläum:Neugier und Stil

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Jenseits der Hundegrenze: Die große Autorin und "Spiegel"-Reporterin Marie-Luise Scherer wird dieses Jahr 80 Jahre alt.

Von Burkhard Müller

Welche Chancen hat im deutschen Geistesleben der Fünfziger ein Mensch, der kein Abitur besitzt und noch dazu eine Frau ist? Da bleibt eigentlich nur eines: Journalistin! Nicht als ob es für eine solche in der Presselandschaft vor einem halben Jahrhundert besonders leicht gewesen wäre. Aber Marie-Luise Scherer, im tief provinziellen Saarbrücken geboren und aufgewachsen, beißt sich durch. Sie beginnt ihre Laufbahn bei Zeitungen in Köln und arbeitet dann vor allem in Berlin, dem alten Westberlin, das mitten im Feindesland liegt, eingezäunt wie ein subventionierter Zoo. Vielleicht hängt es damit zusammen, dass speziell ihre Tiergeschichten so regen Anklang finden: die Story von Pipo dem Eichhörnchen etwa, das im Schaufenster eines Geschäfts Pfeife zu rauchen scheint (in Wahrheit ist darin seine Futterpaste versteckt), oder dem Berliner Verband der Pinselohrenaffenzüchter.

Marie-Luise Scherers Ruf bis heute begründen die Reportagen, die sie für den Spiegel geschrieben hat. In diesem Leitmedium der noch ziemlich jungen BRD erringt sie ein Privileg, das außer dem Chef persönlich sonst keiner genießt: Sie darf dort "ich" sagen. Vom typischen anonymen Spiegel-Sound stechen sie scharf ab. Sie besucht Modenschauen und Gourmet-Konferenzen: sie erlebt die großen alten Damen des Show-Geschäfts: Lili Palmer, wie sie in ihrem Hosenanzug auf dem Sofa herumturnt; Hildegard Knef, die sich im Foyer eines Luxushotels mit rauchiger Stimme die Verehrer vom Hals hält; die fast erblindete Zarah Leander beim Auftritt vor einem Publikum, das sie nicht zu schätzen weiß. Liest man diese Texte im Abstand von Jahrzehnten, merkt man, wie in die scheinbar kleinen Beobachtungen eine ganze Epoche eingeschlossen ist. Auch vor dem Grausigen schreckt sie nicht zurück: nicht vom Fall der Siebzehnjährigen, die aus der spießigen schwäbischen Heimat ins linke Berlin emigriert und in ihrer WG einem Mord zum Opfer fällt; nicht vor der "Hundegrenze", von der DDR quer über die Eisdecke eines Sees am Rand zum Westen gezogen. Die Hunde dort sind an einem Seil angeleint, das ihnen gestattet, jeden Republikflüchtling einzuholen - aber nicht weiter. 1989/90, im Winter der Freiheit, werden die Hunde schlicht vergessen; und als das Eis zu tauen beginnt, erreichen sie das Ufer nicht und ertrinken, einer nach dem anderen.

Immer beweist Scherer, wenn sie schreibt, zwei Eigenschaften, aus deren Balance ihr Stil hervorgeht: Neugier und Takt. Die Neugier führt sie zu Stoffen, an denen andere vorbeigegangen wären. Ihr Taktgefühl verhindert, dass diese auf Anhieb bloß öd oder skurril wirkenden Funde der Lächerlichkeit preisgegeben würden. Ein Nudist, der sich vor den Porträts von Albert Schweitzer und Mahatma Gandhi aufstellt und verkündet: Der nackte Mensch lügt nicht! - was hätte ein Loriot daraus gemacht. Bei Marie Luise Scherer behält er seine Plausibilität und seine Würde.

Einige dieser Geschichten sind in Buchform erschienen; der große Rest muss bis auf weiteres als verschollen gelten, was sehr schade ist und sich unbedingt ändern sollte. An diesem Montag feiert Marie-Luise Scherer ihren 80. Geburtstag.

© SZ vom 15.10.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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