Als Papst Benedikt XVI. seine erste Enzyklika vorlegte, da hatte das Tagesgeschehen die Richtung des Denkens bestimmt. Damals, im Dezember 2005, wollte er mit "Deus Caritas est" eine "Botschaft von hoher Aktualität und ganz praktischer Bedeutung" verkünden. In einer Welt, "in der mit dem Namen Gottes bisweilen die Rache oder gar die Pflicht zu Hass und Gewalt verbunden wird", sollten die zur Solidarität drängenden Aspekte des Christentums betont werden. Insofern war "Deus Caritas est" ein politisches Rundschreiben. Die am Freitag veröffentlichte zweite Enzyklika "Spe salvi", "Auf Hoffnung hin gerettet", ist weit introspektiver geraten. Sie verdankt sich jedoch einem nicht minder zeitdiagnostischen Anlass. Statt des religiösen Fanatismus soll jetzt die Zukunftsangst vertrieben werden. Hoffnung soll entstehen, wo Beklemmung herrscht.
Für seinen Befund könnte Benedikt XVI. sich auf eine Vielzahl zeitgenössischer Interpreten stützen, etwa auf den amerikanischen Futurologen Stewart Brand, der schon im Jahr 2000 über den Verlust der Zukunft als Denkform nachdachte, oder auf Soziologen jedweder Couleur, von Ulrich Beck bis Richard Sennett. Oder auf den Regensburger Theologen Joseph Ratzinger, der 1977 die Krise des Christentums als Krise eines schwindenden Zukunftsbewusstseins deutete: Eine "tödliche Achsenverschiebung" habe sich ereignet, seit die Christen nicht mehr das Finale im Blick hätten, das "Heilsein der Welt" an deren Ende. Die Spannkraft des Lebens erlahme, wenn die Letzten Dinge aus dem Blick gerieten. Darum dominiere jenes "langweilige und gelangweilte Christentum, das wir [...] aus eigener Erfahrung kennen."
So argumentierte Ratzinger 1977 in seiner laut eigener Aussage gründlichsten Arbeit überhaupt, der Schrift über "Eschatologie, Tod und ewiges Leben." So argumentiert er heute in "Spe salvi", wo er apodiktisch formuliert: "Erst wenn Zukunft als positive Realität gewiss ist, wird auch die Gegenwart lebbar." Dreimal spricht er von der "Hoffnungsgewissheit" und meint damit mehr als Zuversicht, meint das feste Wissen, "dass trotz allen Scheiterns mein eigenes Leben und die Geschichte im ganzen in einer unzerstörbaren Macht der Liebe geborgen sind."
Das ist sehr katholisch gedacht und wird nicht jeden katholischen Theologen befriedigen. Für Benedikt ist Hoffnung keine Frage des Gefühls, keine Angelegenheit bloß des Wünschens und Sehnens, sondern die Erwartung dessen, was tatsächlich kommen wird: das gute Leben, der "erfüllte Augenblick, in dem uns das Ganze umfängt und wir das Ganze umfangen". Mit diesem Ausdruck will er das "irritierende, ungenügende" Wort vom ewigen Leben umschreiben. Eine Neuformulierung scheint dem Pontifex nötig, weil niemand sich nach einer endlosen Abfolge von Kalendertagen sehne, und weil diese Missdeutung der eigentlichen Botschaft im Wege stehe. "Vielleicht wollen viele Menschen den Glauben heute einfach deshalb nicht, weil ihnen das ewige Leben nichts Erstrebenswertes zu sein scheint."
Wie jede Enzyklika ist "Spe salvi" an "alle Christgläubigen" gerichtet. Diese neu zu stärken in den Kardinaltugenden Glaube, Liebe, Hoffnung steht als Programm über dem Pontifikat Ratzingers. Der Adressatenkreis erhält hier eine Einführung in die Endzeitlehre, zentriert um die außerchristlich gewiss umstrittene These, die Gegenwart meistern könne nur, wer sich eines guten und ewigen Endes gewiss sei. Gerade die universitär mittlerweile sehr karg behandelten Themen Fegefeuer und Gericht erhalten eine Zentralität, die sie letztmals im 19. Jahrhundert hatten und die heute von akademischen Außenseitern wie Klaus Berger verfochten wird. Bezeichnenderweise zitiert Benedikt mit Ausnahme von Henri de Lubac keine Theologen des 20. Jahrhunderts, wohl aber Gregor von Nazianz, Augustinus, Bernhard von Clairvaux.
Kein geplantes Heil
Die Argumentation indes ist hochmodern, stellenweise pragmatisch und grundoptimistisch. Ein Fegefeuer mit persönlichem Gericht müsse es geben, damit auch der niederträchtigste Mensch - Benedikt denkt an die Schlächter der Weltgeschichte - erfahren kann: "Unser Schmutz befleckt uns nicht auf ewig." An der Hölle als einer weiteren realen Möglichkeit hält Benedikt ebenfalls fest. Daraus ergibt sich, ohne dass es ausgesprochen wäre, die Ablehnung der Todesstrafe, die Absage an jeden endgültigen Bannspruch, jede ewige Feindschaft. Der Mensch kann folglich bis zum letzten Atemzug und darüber hinaus dem Bösen entsagen, das er tat. Das Resultat eines hoffnungsvollen Lebens ist somit Gerechtigkeit. "Ich bin überzeugt", schreibt Benedikt, "dass die Frage der Gerechtigkeit das eigentliche, jedenfalls das stärkste Argument für den Glauben an das ewige Leben ist." Anderenfalls hätte "das Unrecht der Geschichte das letzte Wort".
Der Dreiklang aus Hoffnung, Gerechtigkeit und Geschichte fügt sich aber nicht nur in einen christlichen Rahmen. Das zivile Recht zielt auf innerweltliche Gerechtigkeit, Geschichtsphilosophie ließ sich unter materialistischen Vorzeichen betreiben, und die Hoffnung ist der Leitstern aller sozialrevolutionären Bewegungen von Marx und Engels bis Che Guevara. Darum muss Ratzinger wie 1977 seine Kategorien dem weltanschaulichen Gegenüber entwinden. Damals waren es Jürgen Moltmanns "Theologie der Hoffnung", Ernst Blochs marxistisches "Prinzip Hoffnung" und die Befreiungstheologie, denen er vorwarf, die Hoffnung zu "depotenzieren"; man dürfe nicht das Unmögliche, "die Veränderung der Welt insgesamt", zum Leitfaden des Wirklichen machen: "Ein geplantes Heil ist das Heil des Konzentrationslagers."
Auch die Kirche muss durchs Fegefeuer
Diese Überzeugung schreibt "Spe salvi" fort und erhält so ausnahmsweise eine unmittelbar politische Dimension. Zwar sei "der stete Einsatz dafür nötig, dass die Welt besser wird, aber die bessere Welt von morgen kann nicht der eigentliche und genügende Inhalt unserer Hoffnung sein." Weder über die konkrete Ausgestaltung einer diesseits perfektionierten Welt noch über die Wege dorthin lasse sich je Einigkeit erzielen. So bleibt denn in dieser Perspektive, will man die Gesinnungsdiktatur vermeiden, nur der Abschied von der Weltverbesserung en gros und die Hinwendung zum Detail, zum gemeinschaftsbedürftigen Einzelnen.
Da die Enzyklika eine große Portion Kultur- und Technikkritik enthält, da die Freunde des Aphorismus auf ihre Kosten kommen - "Freiheit braucht Überzeugung", "Keiner wird allein gerettet" - und da in den Märtyrern ein zentraler Wahrheitsbeweis des Christlichen gesehen wird, ist "Spe Salvi" ein Kompendium der theologischen Philosophie des Joseph Ratzinger. Es richtet sich an die Verächter der Letzten Dinge und wendet sich gegen die Designer eines perfekten Lebens, die Gen-Bastler und Sterbehilfeaktivisten. Wenn Benedikt eine "Selbstkritik des neuzeitlichen Christentums" fordert und damit eine Abkehr vom Subjektivismus, benennt er den eigenen Anspruch. Nur von der Wurzel her lasse sich das Christentum erneuern, umbrennen und freibrennen zum Eigentlichen. Auch die Kirche muss durchs Fegefeuer: So lautet die radikale Pointe dieser Enzyklika, verfasst vom ranghöchsten Kirchenkritiker.