John Berger "Hier, wo wir uns begegnen":So also könnte man sein Leben auch führen

Lesezeit: 6 min

Stil, der von innen kommt: John Bergers tagträumerische Exkursionen in der sichtbaren und der unsichtbaren Welt

Christoph Bartmann

Die Anzahl der Leben, die in unseres treten, ist unabsehbar''. Ohne Anschluss, auf einer ansonsten leeren Seite, steht der Satz in einer der acht essayistischen Erzählungen, aus denen John Bergers jüngstes Buch besteht. ,,Hier, wo wir uns begegnen'', heißt es, und der einsame Satz aus ,,Der Szum und der Ching'' formuliert sein Programm. Von Orten und Begegnungen eines langen und allem Anschein nach erfüllten Lebens wird hier erzählt, nicht in zeitlicher Folge, sondern im Modus der Unabsehbarkeit.

Nicht nur die Zahl der Leben, auch das Wo, das Wann und Wie ihres Erscheinens sind unabsehbar. Von Erscheinungen handeln denn auch die meisten dieser Erzählungen, vom unverhofften und traumgleichen Wiedereintritt einmal vertraut gewesener Personen in das gegenwärtige Leben. Keine Autobiographie hat Berger, der nun achtzigjährige Essayist und Lyriker, Kunstkritiker und Maler geschrieben, sondern eher ein Skizzenbuch voll subtiler, schwebender und sprunghafter Betrachtungen von Orten und Menschen, mit denen sein Leben in Berührung kam.

Lissabon, Genf, Krakau, Islington, die Höhlen der Ardèche, Madrid oder die in der Phantasie korrespondierenden Flüsschen Szum und Ching - der eine in Polen, der andere im Londoner Osten -, das sind Ausgangspunkte für Bergers tagträumerische Exkursionen. Berger ist ein Autor, der viel weiß, er ist ebenso belesen wie weltzugewandt, und deshalb sagt er über die Städte, die er kennt, manchmal Dinge, die den Unkundigen einschüchtern können, etwa: ,,Lissabons Bezug zur Welt des Sichtbaren ist unter allen Städten einzigartig.''

Das kann nur behaupten, wer alle Städte gesehen hat. Wie will, fragt man sich, Berger die starke These begründen? Und siehe da, er gibt eine Antwort, die nicht enttäuscht. Die Azulejos, die weiß-blauen Kacheln an Lissabons Häuserwänden, seien mit ihren Darstellungen Flöte spielender Affen, Trauben lesender Frauen, von Kreuzrittern, Heiligen und Walfischen ein Bildarsenal der ganzen Welt. Sie schärfen, sagt Berger, ,,die Aufmerksamkeit für alles Sichtbare''.

Die Toten bleiben nicht in ihrem Grab

Die gemusterten Steine des Straßenpflasters dagegen gäben einen Hinweis darauf, ,,dass sie etwas verdecken und dass dank ihnen etwas Dahinterliegendes ewig unsichtbar bleibt!'' Dasselbe scheint bei Bergers literarischer Welterschließung der Fall. Seine Aufmerksamkeit für das Sichtbare ist grenzenlos; man spürt die Geschultheit und Beweglichkeit seines Blicks in allem, was er schreibt. Etwa wenn er von einer Gruppe junger Manager in einem Madrider Hotel sagt, sie hätten ,,eine Art, sich vorzulehnen, wie einst die hölzernen Galionsfiguren der Schiffe.''

Aber wie die Lissabonner Pflaster-Ornamente deutet auch Bergers Schreiben auf eine unsichtbare Welt. ,,Halberblicktes'' nennt er einmal den Quell seiner Intuition, Folge eines Blicks, der seine Gegenstände scharf erfasst und sogleich über sie hinweg träumt. Bei aller Erdung, aller Handfestigkeit seines Umgangs mit den Dingen tut sich in seinen Geschichten ein Raum für Wunder auf.

Wie soll man es anders nennen, wenn dem Erzähler mitten in Lissabon, auf einer Parkbank, die längst verstorbene Mutter begegnet? ,,Die Toten bleiben nicht in ihrem Grab'', erklärt ihm die Mutter, nachdem sie sich bei ihm eingehängt hat. Nach ihrem Tod dürften die Toten wählen, wo sie auf der Erde leben wollen (freilich unter der Bedingung, dass sie wieder zurückfinden ins Jenseits).

Sie habe sich für Lissabon entschieden, wo sie niemals war. Und so ziehen Mutter und Sohn durch die Stadt und bereden die Vergangenheit; und wenn sich die Mutter versteckt hält, was geschehen kann, setzt der Sohn sein übliches Tagwerk - schreiben, zeichnen, gehen, schauen - fort.

Mit einem Fuß im Totenreich

Berger ist ein glänzender Stadtbeobachter, kulturhistorisch beschlagen und fähig, in wenigen Sätzen etwa das Wesen der portugiesischen Saudade zu erfassen oder das Reformwerk des Marques de Pombal zu erklären. Unversehens gleitet er dann aber von solchen Gegenständen wieder hinüber in den Halbschatten, aus dem ihm seine Mutter entgegengetreten ist.

Gemeinsam schlendern sie über den großen Fischmarkt am Tejo-Ufer, und die Mutter spricht zu ihm in Rätseln: ,,Seit ich tot bin, habe ich eine Menge gelernt. Solange du hier bist, solltest du das nutzen. In einem toten Menschen kann man nachschlagen wie in einem Wörterbuch.''

Nach ihrem Tod scheint die Mutter zur Philosophin geworden zu sein. Was immer sie sagt, es zeugt von einer Art Weisheit, wie sie unter Lebenden die Ausnahme ist. ,,Man ist entweder furchtlos oder frei'', widerspricht sie ihrem Sohn. ,,Beides ist zugleich nicht zu haben.'' Auch die Philosophie könne dabei nicht entscheidend helfen.

Darüber ließe sich länger streiten, aber Berger liebt das Apodiktische, den Lichtstrahl einer unvermittelten Einsicht. Der Sohn lässt sich die guten Ratschläge gern gefallen, selbst wenn es ums Schreiben geht. Dazu sei Mut erforderlich, gibt er zu bedenken, doch die Mutter, noch im Tode praktisch gesinnt, macht ihm Hoffnung: ,,Der Mut wird schon noch kommen. Schreib einfach deine Entdeckungen auf, und sei so freundlich, uns zu erwähnen.'' Nichts anderes tut er mit seinem Erinnerungsbuch: Freundlich erwähnt er die Toten und lässt sie reden, ehe sie wieder verschwinden, wie die Mutter im Halbdunkel des Aquädukts von Aguas-Livres.

Auch die anderen Geschichten stehen mit einem Fuß im Totenreich. In Genf sucht Berger mit seiner Tochter Katya das Grab von Jorge Luis Borges auf, in Krakau begegnet ihm an einem Marktstand Ken, der 1937 sein Aushilfslehrer war und später sein Freund und Mentor wurde.

In Islington steht er vor der Haustür von Hubert, mit den ihn die Erinnerung an Londoner Kunstschuljahre im Zweiten Weltkrieg verbindet, die Zeit auch der Verbindung mit Audrey, die in ihm ein ,,namenloses Begehren'' weckte - ,,wo immer sich unsere Haut berührte, gab es das Versprechen auf den Horizont.'' In Madrid steigt in Tweedjackett und Knickerbocker ein Mann namens Tyler die Hoteltreppe herab, zu dem Berger als Siebenjähriger in die ,,Grüne Hütte'', eine prep school, ging. ,,Dein Leben wird noch im Schlamassel enden'', hatte Tyler damals zu ihm gesagt, ,,weil du nicht gerade sägen kannst.''

Am polnischen Fluss Szum, an einer Ampel in Kielce, steht plötzlich Liz mit ihrem Auto neben ihm, die Geliebte aus Studientagen in London, mit der er Abende lang klassische Musik hörte und den Willen zum ,,Stil'' erprobte (Stil und Musik, sagt Berger, seien enge Verwandte). Dann fahren sie gemeinsam zu Mirek und seiner Familie, in eine gar nicht geträumt wirkende polnische Szenerie von heute, und während Berger aus Sauerampfer und Lauch und anderem, was Wald und Garten bieten, eine Suppe kocht, schweift seine Erzählung von der Zeit mit Liz hinüber in die Gegenwart der jungen Familie und von dort wieder zurück in die polnische Geschichte.

Man kann sie als Nachschlagewerke benutzen

Man kann dem Ton der Beschreibungen verfallen, die Berger von diesen Orten und Landschaften gibt, etwa von den Ebenen östlich von Berlin, von denen es heißt: ,,Dir fällt auf, dass alles, was vertikal aus der flachen Ebene ragt, nun anders wirkt: Holzzäune, ein aufrecht im Feld stehender Mann, gelegentlich ein Pferd, die Bäume im Wald.'' An anderer Stelle stellt Berger der Stadt Genf einen Reisepass aus: ,,Nationalität: neutral - Geschlecht: weiblich - Alter (die Diskretion gebietet es): wirkt jünger, als sie ist -'' und so fort.

Es gibt eine intuitive Stimmigkeit in all diesen Beschreibungen, eine Bildlichkeit, in der das Angeschaute klar erkannt wird und zugleich wie entrückt wirkt. Man kann sich auf Bergers Beobachtungen verlassen, weil sie den Tatsachen abgewonnen sind, und doch betritt man mit ihnen einen neuen Raum.

Bergers Genf wird zu einem metaphysischen Bezirk, geprägt von der Rationalität und Verschwiegenheit seiner Bewohner, und ist zugleich eine Stadt, die eben deshalb alles Wesentliche verborgen hält. In Genf hat Borges während des Ersten Weltkriegs die Schule besucht, und hierher ist er als alter Mann mit seiner jungen Frau und Schülerin María Kodama zurückgekehrt.

Hier liegt er begraben, und John Berger und seine Tochter Katya versuchen an seinem Grab die angelsächsischen und altnordischen Inschriften zu entziffern. Worauf, kann man sich fragen, will diese Geschichte hinaus? Geht es in ihr um die Eigentümlichkeiten von Genf, um die Begegnung mit der Tochter oder um Borges' späte Jahre - und wie hängen die Dinge zusammen? Es ist der Geist der Alchimie, der in Bergers Erzählungen Zusammenhang auch da erzeugt, wo man ihn sonst nicht sähe.

Betrachtet man Bergers Leben, wie es dieses Buch vor Augen führt, dann tritt als eines seiner leitenden Impulse die Lebenskunst hervor. Bergers Leben wirkt so frei (und weithin furchtlos), weil er in ihm so unverkennbar seinen Stil gefunden hat. Man kann Bergers Schreiben, seine Weise, über die Welt, über Frauen und Freunde zu sprechen, 'mondän' finden, in seiner Gewandtheit, seinem Selbstbewusstsein, seiner Urteilsfähigkeit und dem Vertrauen in die eigenen Kenntnisse und Fertigkeiten - auch das Sägen hat er fortan nicht mehr verlernt. Es gibt eine Eleganz und eine Gelassenheit in diesen Erinnerungen, die den Leser sehnsüchtig stimmt - so also könnte man sein Leben auch führen.

Am besten aber beschreibt die Faszination von Bergers Welt wohl ein Wort, das er mit seiner Freundin Liz in Verbindung bringt: Stil. Sägen, kochen, reisen, lesen, zeichnen, schreiben, denken, Freundschaften pflegen, alles was Berger in diesem Buch praktiziert, ist Ausdruck von gelebtem Stil. Eines Stils, den man (natürlich) nicht kaufen kann und zu dem nach Berger eine ,,gewisse Leichtigkeit'' gehört, die einen dennoch nicht aus der Verantwortung entlässt. ,,Stil ist fragil'', schreibt Berger, ,,er kommt von innen''. Und weiter: ,,Stil ist ein unsichtbares Versprechen. Und deshalb fordert und stärkt er das Talent zu Ausdauer und Geduld.''

© SZ-Beilage vom 04.10.2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: