Johannes-Passion:Spirituelle Leidenschaft

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Enoch zu Guttenberg eröffnet die Herrenchiemsee-Festspiele

Von Egbert Tholl, Frauenchiemsee

Wie aus dem Nichts entsteht eine nervöse Spannung, nervös im besten Sinne, im Sinne von Aufregung. Die Unruhe im Orchester hat vom ersten Ton an etwas Schöpferisches, es deutet sich etwas an zwischen Katastrophe und Hymnus, man ahnt vieles, weiß noch wenig, die Stränge der musikalischen, also emotionalen Erzählung sind dicht miteinander verwoben, nun könnte alles kommen, nach diesem langen Crescendo. Kontinuierlich steigert das Orchester seine Intensität, wie eine elastische Sehne wird diese gedehnt und gedehnt und dann explodiert der Chor: "Herr!"

Nach diesem Beginn allein, der Orchestereinleitung zu Bachs "Johannes-Passion" wie dem ersten Choreinsatz, könnte man das Münster auf der Insel Frauenchiemsee verlassen, durch das nun von den Tagestouristen verlassene Idyll wandeln, völlig beseelt von diesem einem Ausruf, der in einem einzigen Wort kündet von Hingabe, Hoffnung, Sehnsucht und Verzweiflung. Aber da kommt noch was.

Was kommt, ist eben zur Eröffnung der Herrenchiemsee-Festspiele die "Johannes-Passion" mit der Klangverwaltung, der Chorgemeinschaft Neubeuern, einer ganzen Schar erlesener Instrumentalisten, Spezialisten auf dem Gebiet der Alten Musik, und Sängerinnen und Sängern, von denen einige einen so großartigen Eindruck hinterlassen, dass man sich die ganze Nacht über noch mit ihnen im Kopf herumwälzt. Enoch zu Guttenberg eröffnet die Festspiele mit einer spirituellen Ouvertüre auf der Nachbarinsel, weil dort halt das Münster steht, in das bei aller Enge an diesem Abend die Passion hineinpasst, als wäre sie dafür geschrieben worden.

Enoch zu Guttenbergs Auffassung der spirituellen Leidenschaft in dieser Musik ist über die vielen Jahre seiner Beschäftigung damit immer unabdingbarer geworden. Das Ausformulieren eines jeden Details reißt einen mit. Guttenberg weiß auch um die Schattenseiten dieser enormen Plastizität: Selten ergriff einen bei einer Aufführung der "Johannes-Passion" die schauerliche Erkenntnis des darin mehr oder weniger latent vorhandenen Antisemitismus. Es ist der von Martin Luther, und er gehört halt auch zu diesem Werk.

Guttenberg hat ein Pedant, den inbrünstigen Evangelisten Daniel Johannsen, der von der Kanzel herab erzählt, singt, schreit - grandios und mit einer leidenschaftlichen Präzision. Er wird begleitet von einer der drei Continuo-Gruppen, von Anja Lechner (Cello), Peter Schlier (Bass) und Olga Watts am Cembalo, feinsinnige Künstler der Verzierung. Das ganze Orchester ist durchsetzt von Musikern an Gambe, Laute (Axel Wolf!), Viola d'Amore, zwischen den beiden Teilen der Passion rezitiert André Jung eine Predigt von Johann Jakob Rambach aus dem frühen 18. Jahrhundert - archaische Wucht, die ihren Widerhall in der Musik findet.

© SZ vom 20.07.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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