Jena-Six-Proteste:Rassismus-Alarm im Netz

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Wegen rassistischer Provokation verprügeln amerikanische Teenager einen Kommilitonen und werden wegen versuchten Mordes angeklagt. Was als juristische Provinzposse startet, wächst sich zum internationalen Proteststurm aus - übers Internet.

Jonathan Fischer

"The revolution will not be televised", proklamiert ein Song des afroamerikanischen Sängers Gil Scott-Heron aus dem Jahr 1971. Soll heißen: Die wirklich relevanten Umwälzungen passieren im Bereich so genannter Graswurzelbewegungen, außer Sichtweite der Fernseh-Kameras. Drei Jahrzehnte später kann man gesellschaftliche Gegenbewegungen in den USA zwar immer noch nicht im Fernsehen verfolgen, sehr wohl aber im Internet.

Das zeigt einmal mehr der Fall der "Jena Six", einer Gruppe von sechs schwarzen Teenagern, die im Dezember vergangenen Jahres nach rassistischen Provokationen einen weißen Kommilitonen verprügelten und dann von einer weißen Jury wegen versuchten Mordes angeklagt wurden.

Als mittellose Unbekannte wären sie wohl irgendwann im Gefängnis vergessen worden. Wenn sich nicht ein unglaublicher Proteststurm erhoben hätte, der die juristische Provinzposse zum internationalen Nachrichtenthema machte.

Vor den Etablierten

Als am 20. September zehntausende Demonstranten aus ganz Nordamerika durch die Kleinstadt Jena, Louisiana marschierten, um ihre Solidarität mit den sechs Angeklagten zu bekunden, war deren Schicksal unter Afroamerikanern schon lange Tagesgespräch. Seit Anfang des Jahres hatte sich ihre Geschichte wie ein Lauffeuer übers Internet verbreitet. In den etablierten Medien erfuhr man noch nichts von den "Jena Six", aber afroamerikanische Webseiten wie colorofchange.org hatten schon Tausende Unterschriften gesammelt.

Die "Afrosphere", wie das Netzwerk schwarzer Blogger in den USA heißt, lief heiß. Die Geschichte wanderte von Blog zu Blog. Petitionen wurden entworfen, Geld für die Verteidigung der Angeklagten gesammelt und Kundgebungen organisiert. Und das alles online. "Die seit Jahren größten Bürgerrechtsproteste", behauptet Shawn Williams, Betreiber des populären Dallas South Blog, "verdanken sich zu einem großen Teil der Macht des Internets".

Nicht, dass der Protestmarsch ohne das World Wide Web nicht möglich gewesen wäre. Doch die Initiative ging von einer anonymen Netzgemeinschaft aus, um erst viel später von politischen Führern wie dem Prediger und ehemaligen Präsidentschaftskandidaten Reverend Al Sharpton oder dem Sohn Martin Luther Kings usurpiert zu werden. Selbst Bürgerrechtslegende Reverend Jesse Jackson, der mit 20 Busladungen seiner Anhänger anrückte, musste eingestehen, die Geschichte aus dem Internet erfahren zu haben.

Baum der Erniedrigung

Alles hatte am 31. August 2006 an der Jena High School begonnen, einer Oberschule, an der 85 Prozent der Schüler weiß sind. Ein schwarzer Student hatte den Schuldirektor gefragt, ob er während einer Schulfeier nicht wie sonst mit seinen schwarzen Freunden auf den Zuschauerbänken, sondern unter jenem Baum sitzen könnte, der unter Schülern als "Weißer Baum" bekannt war, weil sich dort normalerweise eine weiße Clique zusammenfand. Am nächsten Tag hingen von dem Baum zwei Schlingen - eine Anspielung auf die Lynchmorde, mit denen Afroamerikaner einst bedroht wurden, sobald sie die unsichtbaren Rassen-Grenzen überschritten.

Es kam zu einer Reihe von Schlägereien, bei der die weißen Angreifer ungeschoren davonkamen. Sechs schwarze Jugendliche aber, die einen Kommilitonen verprügelten, weil er sie als "Nigger" beschimpfte, wurden wegen versuchten Mordes angeklagt. "Ein klarer Fall von Rassismus und voreingenommener Justiz", wie die Betreiber des Blogs colorofchange.org erklären. Und die Chance, die Wirksamkeit der neuen Medien zu erproben. Schließlich garantierte die Symbolkraft der Lynch-Schlingen und des Baumes "nur für Weiße" eine hoch-emotionale Reaktion.

So stand der Fall exemplarisch für eine von der Bürgerrechtsbewegung kaum berührte Justiz in den ländlichen Südstaaten. "Vor zehn Jahren," schwärmte Reverend Al Sharpton angesichts der 30 000 "No justice no peace" skandierenden Demonstranten in Jena, "hätte das nicht passieren können: Wir waren im Internet kaum vernetzt, es gab kaum schwarze Blogs oder Radiosendungen. Jetzt können wir das schwarze Amerika jederzeit erreichen".

Was aber hat die rasante Ausbreitung der Afrosphere bewirkt? Polit-Rapper Chuck D erntete vor zehn Jahren noch Spott, als er ankündigte, Songs von Public Enemy ausschließlich im Internet zu veröffentlichen, und die Aufrüstung des Ghettos mit Laptops statt Goldfelgen forderte. "Wir haben colorofchange.org nach dem Hurrikan Katrina ins Leben gerufen", heißt es auf der afroamerikanischen Webseite, "um sicherzustellen, dass unsere Gemeinschaft das nächste Mal, wenn sie von einer Katastrophe getroffen wird, dem schwarzen Amerika und seinen Verbündeten eine organisierte, strategische und laute Antwort geben kann."

Und das nicht nur in Jena. Nach eigenen Angaben haben sich bei colorofchange.org 6500 Blogger verpflichtet, Flugblätter in ihren Communities auszuteilen. 200 Mahnwachen wurden organisiert. Und 6200 Mail-Adressaten riefen Politiker in Louisiana an.

Gesichts- und namenlos

"Im Netz kannst du sofort agieren", erklärt Williams die Attraktivität des Bloggens. "Hier ist die Nachricht, hier die zu verschickende Petition. Um per Mail zu mobilisieren, braucht man nur Stunden und Tage anstatt Wochen und Monate." Eine Gruppe schwarzer Blogger organisierte gar ein Blog-In: Sie berichteten alle am selben Tag über den Fall und bündelten so die öffentliche Aufmerksamkeit. Am Ende waren 220 000 Unterschriften und 130 000 Dollar an Spenden gesammelt. Selbst Popstars wie David Bowie zahlten 10 000 Dollar in den Verteidigungsfonds ein, während schwarze Entertainer wie Bobby Brown, Twista oder Killer Mike ein Benefiz-Konzert für die "Jena Six" in Birmingham, Alabama ankündigten.

Williams vergleicht die schwarzen Blogs deshalb mit der "Underground Railroad", dem legendären Netzwerk, das einst entflohenen Sklaven zur Flucht in den Norden verhalf: "Viele Menschen im Internet sind gesichts- und namenlos. Wie bei der Underground Railroad weißt du, wo du hingehen musst, aber nicht, wer dich bei deiner Ankunft erwarten wird."

Am vergangenen Freitag wurde der letzte der "Jena Six"-Jugendlichen aus der Haft entlassen. Doch die Anklagen bestehen. Es bleibt abzuwarten, wie viel Druck die schwarze Blogger-Community auf die Politik auszuüben vermag. Immer mehr Blogs fordern nun eine Stellungnahme der demokratischen Präsidentschaftskandidaten: "Wer die Jena Six nicht versteht, versteht uns nicht," verkündet colorofchange.org.

Hillary Clinton und Barack Obama kämpfen zwar verzweifelt um die schwarze Wählerschaft, haben sich aber aus taktischen Gründen um eine allzu eindeutige Stellungnahme gedrückt. Bisher. Das wird ihnen kaum länger möglich sein. Nicht nur weil Jena - so Jesse Jackson in Anspielung an Martin Luther Kings berühmten Marsch - das neue Selma ist.

© SZ vom 1.10.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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