50 Jahre Sputnik:Wir vergessen unserer Oma ihr klein Häuschen

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Vor 50 Jahren schoss man mit dem Sputnik ein Aluminiumkugel ins All. Ihre wertvollste Fracht war politische Symbolik. Erst Jahrzehnte später lernten die Menschen, den Blick zurück auf den fragilen Heimatplaneten zu wenden.

Lothar Müller

Wenn in diesen Tagen des "Sputnik" gedacht wird, der am 4. Oktober 1957 von seiner Trägerrakete in die Erdumlaufbahn geschossen wurde, wird zugleich die Welt des Kalten Krieges wieder lebendig. Die Aluminiumkugel mit einem Durchmesser von knapp 60 Zentimetern enthielt nicht nur ein Thermometer und einen Funksender, sondern zugleich eine schwerelose Fracht in hoher Konzentration: politische Symbolik.

Dem Rüstungswettlauf trat der Wettlauf um die Eroberung des Kosmos an die Seite. Beide Wettläufe waren verknüpft: die Interkontinentalraketen der militärischen Konfrontation waren die technologische Basis für die Raketen, die ins All geschossen wurden. (Foto: Foto: dpa)

Der Sozialismus demonstrierte, wozu er fähig war, und Amerika, die Führungsmacht des Westens, war geschockt. Der Take Off des Raumfahrtzeitalters wurde von Energien beschleunigt, die aus den Spannungen der bipolaren Welt hervorgingen. Die Systemkonkurrenz beförderte als wichtigster Treibstoff den Aufbruch ins Weltall. Dem Rüstungswettlauf trat der Wettlauf um die Eroberung des Kosmos an die Seite. Beide Wettläufe waren verknüpft: die Interkontinentalraketen der militärischen Konfrontation waren die technologische Basis für die Raketen, die ins All geschossen wurden.

Während aber die atomare Hochrüstung auf der Erde die negativen Utopien der plötzlichen Vernichtung des Planeten an sich band, wurde der Wettlauf ins All zur Rivalität um die Aneignung und Bewirtschaftung utopischer Potentiale. Unmissverständlich tritt im Rückblick zutage, wie gleichgestimmt die Kontrahenten dabei waren, wie sehr sich im Kern ihre Rhetorik ähnelte: Es war auf beiden Seiten die Rhetorik des Fortschritts, des Aufbruchs in neue Welten, der Zukunftsmission.

Zumal im Fortgang von der unbemannten zur bemannten Raumfahrt seit den frühen sechziger Jahren erreichte dieses kolumbianische Pathos der Erschließung extraterrestrischer Welten seinen Zenit und ging in die Systemkonkurrenz ein. Die Insassen der Raumkapseln waren auf der symbolischen Ebene stets beides - Repräsentanten ihrer jeweiligen Gesellschaftssysteme und Abgesandte der Menschheit. Denn zwar trieb die Zeitgeschichte in Gestalt des Kalten Krieges den kosmischen Wettlauf voran, den Rohstoff für seine utopische Aufladung aber lieferte die Gattungsgeschichte. Sie verband die jeweils aktuellen Erfolge und Misserfolge mit alten mythischen, metaphysischen und literarischen Bildern des Kosmos - mit den Reisen zu anderen Planeten, mit dem Blick in den nächtlichen Sternenhimmel, der in der menschlichen Brust das Bewusstsein der moralischen Gesetze wachrief.

Schon Juri Gagarin flog als Verkörperung der Herausforderung ins All, die Zukunft der Menschheit insgesamt liege im Sozialismus. Der Satz des amerikanischen Astronauten Neil Armstrong, nachdem er seinen Fuß auf den Mond gesetzt hatte, dies sei ein kleiner Schritt für einen Menschen, aber ein gewaltiger Sprung für die Menschheit, gewann seine bis heute anhaltende Wirkungsmächtigkeit daraus, dass er diese Gattungsperspektive in sich aufnahm.

Wenn wir nun, zu Beginn des 21. Jahrhunderts, auf den Sputnik, auf Juri Gagarin oder Neil Armstrong und seine Gefährten zurückblicken, so ist der Kalte Krieg ebenso in die Distanz einer abgeschlossenen Epoche gerückt wie die Rhetorik der fortschrittsgewissen Eroberung neuer Welten. Aber die Gattungsperspektive ist ihnen geblieben. Denn sie hat sich, schon bevor im Herbst 1989 die Berliner Mauer fiel, vom beginnenden Prozess der Auflösung der bipolaren Weltordnung befreit. Im Jahre 1988 erschien, herausgegeben von der "Association of Space Explorers" und mit einem Geleitwort von Jacques-Yves Cousteau versehen, der voluminöse Bildband "The Home Planet", der unter dem Titel "Der Heimatplanet" auch in Deutschland erfolgreich war. In seinem Zentrum standen nicht mehr die Bilder der Kosmonauten und Astronauten und auch nicht die Bilder ihrer Raketen, ihrer Kapseln und ihrer Mondfahrzeuge. In seinem Zentrum stand der Rückblick der Astronauten auf die Erde selbst, auf den "blauen Planeten".

Das Buch demonstrierte zweierlei: zum einen, dass die Weltraumfotografie nicht mehr nur ein wissenschaftliches Instrument war, das Geologen, Ozeanographen und Meteorologen mit Ergebnissen der Expeditionen in den Weltraum versorgte, sondern dass die Bilder aus dem Kosmos das Bild der Weltgesellschaft von sich selbst zu prägen begannen. Und zum anderen, dass in der Wahrnehmung des Alls an die Stelle der politischen Utopien und Ambitionen die ökologische Wahrnehmung des Kosmos und des Planeten Erde getreten war.

Den Pfeil des Fortschritts, der ins Unendliche hinausstrebte und immer weiter entfernte Ziele anstrebte, gab es noch. Aber er hatte sich zugleich zurückgebogen: Amerikanische Astronautenveteranen und russische Kosmonautenveteranen wetteiferten darin, den überwältigenden Blick auf den kostbaren, einzigartigen, schützenswerten blauen Heimatplaneten als wichtigste Errungenschaft der Raumfahrt zu feiern. Nicht, was sie taten, sondern was sie im Rückblick auf die Erde sahen, war nun ihr faszinierendstes Abenteuer geworden. Der blaue Planet trat das Erbe der kolumbianischen Entdeckerbilder an, auf denen die amerikanischen Astronauten den Mond betraten und die Fahne hissten.

Noch heute leben wir in dieser Epoche der reflexiv gewordenen Weltraumbilder, des allgegenwärtigen Rückblicks auf den Heimatplaneten. Die ökologische Zentrierung der Gattungsperspektive aber verdunkelt den Horizont der "neuen Welten": Es brechen nun in den populären Phantasien nicht mehr hochgestimmte Pioniere auf, sondern Flüchtlinge aus Szenarien der Unbewohnbarkeit des Heimatplaneten. Den Astronauten droht zugleich im Zuge des kommerziellen Weltraumtourismus das kolumbianische Pathos abhanden zu kommen: Ein Milliardär, der sich das Privatvergnügen eines Ausflugs in den Kosmos gönnt, wird nicht mehr als Abgesandter der Menschheit wahrgenommen. Deren Funktion haben die Sonden eingenommen, die weitere Reisen unternehmen können, als sie in der Spanne eines Menschenlebens möglich sind.

Noch immer sind die Bilder vom Mars, die die neuesten Sonden zurückbringen, für einen spektakulären Bildaufmacher in den Abendnachrichten oder auf den Titelseiten der Zeitungen gut. Aber das fiebrige Fluidum, das in der Sputnik- und Apollo-Ära des Kalten Krieges den Alltag mit Weltraumvisionen durchtränkte, hat seine hochprozentige Konzentration verloren. Und auch die Bilder des blauen Planeten haben ihr Pathos in unzähligen Clips und Al-Gore-Filmen aufgezehrt.

Dem Gesetz folgend, dass mit der ökonomischen und medialen Globalisierung gerade nicht die Schwächung, sondern die Stärkung des Regionalen einhergeht, ist die "Google Earth"-Perspektive die bisher auffälligste kosmologische Errungenschaft des 21. Jahrhunderts. Sie verschränkt für den gesamten Planeten Nahsicht und Weltraum und erlaubt es, aus dem All unmittelbar auf die eigene Privatadresse oder auf Omas kleines Häuschen zuzuschweben.

© Quelle: Süddeutsche Zeitung Nr.225, Samstag, den 29. September 2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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