Interview zur Zukunft des Journalismus (9):"Bis vor kurzem gaben die Reaktionäre den Ton an"

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"Gegenläufiges Publizieren", erst fürs Netz und dann fürs Print, ist für Jay Rosen der Schlüssel zum Erfolg. Im Interview erklärt er, warum die Zukunft den Bloggern und Bürgerjournalisten gehört.

Interview: Leif Kramp und Stephan Weichert

"Zeitenwechsel" - eine neue Serie zur Zukunft des Journalismus geht Trends in der Presse und im Internet nach. Zusammen mit dem Berliner Institut für Medien- und Kommunikationspolitik bereitet sueddeutsche.de Interviews mit namhaften Experten auf. Alle Interviews sind unter sueddeutsche.de/zeitenwechsel abrufbar.

sueddeutsche.de: Mr. Rosen, in Deutschland streiten sich Zeitungsverlage und öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten derzeit über die Ausbreitung der Online-Aktivitäten gebührenfinanzierter Sender. Was halten Sie davon?

Jay Rosen: Die Zeitungsverlage haben natürlich Recht, wenn sie darin eine Wettbewerbsverzerrung sehen. Aber wenn sie schon so etwas aufregt, haben sie wahrscheinlich nicht das Zeug dazu, gute eigene Online-Angeboten anzubieten.

sueddeutsche.de: Wie stehen Sie zu der verbreiteten Strategie, bekannte Zeitungsmarken auf das Internet auszuweiten?

Rosen: Anfangs haben Verleger im Netz nur eine Möglichkeit gesehen, ihr schon vorhandenes Produkt weiterzuverwerten: die gedruckte Zeitung. Sie nahmen also die Zeitung und stellten sie eins zu eins ins Internet. Das war in den USA von etwa 1996 bis 2004 übliche Praxis. Aber das Netz ist ja bekanntlich flexibel und kann viele Sachen. Als die Zeitungsverleger das Internet also baten, ihrer alten gedruckten Zeitung eine zweite Heimat zu geben, antwortete es: Okay, Boss! Und das hieß dann schmissig: die Marke auszubauen. Doch unterm Strich war es eine Verweigerung, sich auf die neue Plattform wirklich einzulassen.

sueddeutsche.de: Was bedeutet es denn, sich auf das Internet "einzulassen"?

Rosen: Wer sich im Netz engagieren will, muss zuerst fragen: Was kann das Internet überhaupt? Aber das passierte in den USA bis vor drei oder vier Jahren kaum. Erst dann wurden die Web-Auftritte der Zeitungen plötzlich interaktiver, verlinkten sich mit dem Rest der Online-Welt, ermutigten ihre eigenen Leute, zu bloggen und mit dem "gegenläufigen Publizieren" zu beginnen, sprich: zuerst fürs Netz zu produzieren und daraus dann das beste Material herauszufiltern, um es später zu drucken. In Deutschland ist eigentlich nur ein Unternehmen auf der Höhe der Zeit, was diese Strategie angeht: Burda. Und das auch nur wegen eines Mannes: Hubert Burda, der bereit ist, voraus zu denken und sich ständig weiterzubilden.

Lesen Sie auf der nächsten Seite weiter, wie das Web 2.0 den professionellen Journalismus verändert.

sueddeutsche.de: Wie gesund ist es für die Traditionsverlage, sich im Internet verstärkt Audio- und Videoformaten zuzuwenden?

Rosen: Plötzlich Audio und Video gutzuheißen, nur, weil die Zukunft "Multi-Media" oder so etwas in der Art sein soll, halte ich, gelinde gesagt, für dumm. Genauso halte ich es aber auch für dumm, wenn ich Jemanden sagen höre: "Wir sind Verleger, wir machen kein Fernsehen." Die enormen Stärken der Verlage liegen in ihrer Begabung, Ereignisse zusammenzufassen, auszusieben und für eine breite Öffentlichkeit das auszuwählen, was heute unsere Aufmerksamkeit verdient, kurzum: die uns dabei helfen, Zeit zu sparen. Wenn das also der Vorzug der Zeitungen ist, dann sollten sie auch daran arbeiten, diese Fertigkeiten auf Audio und Video, aber auch auf das Texten, Fotos, Blogs, Links und Daten zu übertragen. Die wirkliche Herausforderung liegt also nicht in der Frage, "Sollen wir auch noch Fernsehen machen?", sondern: "Wie können wir auf intelligente Weise das herausfiltern, was da draußen vor sich geht?" Und die Antwort darauf ist, stärker mit den Leuten, für die man diese Informationen filtert, ins Gespräch zu kommen. Nichts anderes tut ein sehr guter Blogger, wenn er mit den Nutzern kommuniziert.

sueddeutsche.de: Könnten Blogger und Bürgerjournalisten dann nicht irgendwann den professionellen Journalismus ersetzen?

Rosen: Wir werden auch im Web 2.0 Journalisten brauchen, sie werden aber kein Monopol mehr als "die Presse" besitzen. Zeitungshäuser haben nun mal die schlechte Angewohnheit, Lernprozessen gegenüber feindlich eingestellt und in technischen Dingen Analphabeten zu sein. In den ersten acht bis zehn Jahren, seit das Internet existiert, waren die für die Online-Ausgabe zuständigen Leute bei den meisten Zeitungen in einer anderen Abteilung und manchmal - wie bei den San Antonio Express-News, der New York Times und der Washington Post - sogar in einem anderen Gebäude untergebracht! Eine Folge davon ist, dass sich die meisten Redakteure erst gar nicht in die Arbeitsweisen des Internet einarbeiten mussten und sich die Zeitungsmacher keinerlei tiefer gehende Fragen darüber stellten, was nun eigentlich das Besonderes am Web ist.

sueddeutsche.de: Wie konnten die Verleger nur so blind für die neuen Möglichkeiten sein?

Rosen: Nachrichtenorganisationen sind kein sonderlich gutes Lern-Umfeld: Die Verlage sind es gewohnt, sehr wenig für die Aus- und Fortbildung ihrer Mitarbeiter auszugeben, und die Newsroom-Kultur steht Veränderungen häufig skeptisch gegenüber. Manche Verleger denken bis heute, dass Begriffe wie "Neu-Erfindung" ein schlechter Witz seien, der auf Gurus zutrifft, aber nicht auf Journalisten. Bis vor kurzem noch gaben die Reaktionäre den Ton an. Jetzt müssen sich dieselben Leute, die zuvor dachten, Wiederverwertung sei eine gute Idee, sehr beeilen, mit dem Web zurechtzukommen - bevor es zu spät ist. Und viele von ihnen sind nicht glücklich darüber. Das ist natürlich besonders frustrierend für jüngere Leute, die den Zeitungen dabei helfen wollen, zu überleben und in ihrer neuen Umgebung zu gedeihen.

sueddeutsche.de: Wozu brauchen wir künftig überhaupt noch Zeitungen auf Papier?

Rosen: Ich bin mir gar nicht sicher, ob wir wirklich noch gedruckte Zeitungen brauchen. Diese spezielle Publikationsform, also auf billiges Papier gedruckte und von Werbeanzeigen umgebene Nachrichten, wird möglicherweise nicht überleben. Was wir dagegen brauchen, sind Nachrichtenorganisationen mit jeder Menge kluger Leute, die zusammenarbeiten, um herauszufinden, was in der Welt passiert und das Publikum möglichst schnell darüber zu informieren - ohne für ihr Endprodukt viel Geld zu verlangen. Der Grund, warum wir solche Organisationen brauchen, ist simpel: Die Reichen und Mächtigen, die Unternehmensbosse, haben es sich schon immer leisten können, informiert zu sein. Das war ja auch ursprünglich die Idee der modernen Zeitung mit einer hohen Verbreitung: Jeder, der lesen kann, jeder, der wählen kann, sollte in der Lage sein, sich zu informieren, und nicht nur die Reichen und Mächtigen. Das ist auch heute noch der Grund, warum wir Zeitungen - sorry, ich meine natürlich: Nachrichtenorganisationen - brauchen: Diese Idee lebt deshalb weiter, weil es immer noch einen demokratischen Impuls in unserer Gesellschaft gibt. Die "öffentliche Meinung" und die moderne Presse hängen zusammen. Lesen Sie Habermas' "Strukturwandel der Öffentlichkeit" um zu verstehen, wie eng diese Verbindung ist. Daran wird sich nichts ändern, und deshalb ist es so wichtig, sich um die Zukunft der Presse Sorgen zu machen.

Lesen Sie auf der nächsten Seite weiter, inwiefern Rosen eine staatliche Subventionierung für sinnvoll erachtet.

sueddeutsche.de: Wie viel Zeit bleibt der gedruckten Zeitung noch?

Rosen: Qualitätszeitungen wie New York Times, Washington Post und Wall Street Journal oder der Guardian in Großbritannien werden uns wohl erhalten bleiben. Aber eben nicht als "Zeitungen", sondern als Nachrichtenorganisationen, die viele Dinge tun werden und nur gelegentlich Papier bedrucken.

sueddeutsche.de: Könnten Subventionen der drohenden Erosion des Qualitätsjournalismus entgegenwirken?

Rosen: Die moderne Presse ist ja bereits subventioniert. Lange Zeit war der Nachrichtenteil durch Werbeanzeigen subventioniert, niemand zahlte also den vollen Preis für das Nachrichtenangebot. Inzwischen erlebt die Werbewirtschaft einen derart dramatischen Wandel, dass auch die Subvention durch Werbung bedroht ist. Ich rate daher jedem, der sich um die Qualitätspresse Sorgen macht, auf die Suche nach jeglicher Form der Förderung zu machen, die es gibt. Natürlich ist jede davon mit besonderen Problemen und Unwägbarkeiten behaftet, und manche werden sich als unpraktikabel herausstellen.

sueddeutsche.de: Sehen Sie auch den Staat in der Pflicht?

Rosen: In den USA wäre eine staatliche Alimentierung ein Desaster. Unsere Erfahrung mit dem öffentlichen Rundfunksystem PBS lehrt uns, dass die Republikanische Partei bei staatlicher Subvention diese Art der Finanzierung politisieren und der Presse eine linke Befangenheit vorwerfen würde. Das würde keine Woche dauern. Aber es gibt ja auch noch Stiftungen, die finanziell viel stärker sind als der Staat, und auch der Non-Profit-Sektor ist riesig. Trotzdem sind reiche Leute, die ein Problembewusstsein dafür haben und es sich leisten können, Geld zu verlieren, manchmal die beste Lösung. Praktisch alle politischen Magazine in den USA finanzieren sich so.

sueddeutsche.de: Aber in einigen Ländern scheinen staatliche Zuwendungen ja trotzdem zu funktionieren.

Rosen: In Skandinavien vertrauen die Menschen dem Staat mehr, weshalb staatliche Subventionen dort offenbar eine Option darstellen - aber auch nur, solange sich die Regierung aus dem Nachrichtengeschäft raushält. Mein Bauchgefühl sagt mir, dass wir allen Wegen folgen müssen, um zu sehen, wohin sie führen. Wir sollten keine Möglichkeit auslassen. Dafür brauchen wir eine Menge Leute und Ideen, um viele unterschiedliche Dinge auszuprobieren. Und wir brauchen neue Leistungsfähigkeiten genauso wie neue Finanzierungsmodelle - oder, wie man in Amerika sagen würde: 'New players, new instruments, new melodies, new beats.'

Jay Rosen, geboren 1956 in Buffalo/New York, ist Professor für Journalismus an der New York University und betreibt seit fünf Jahren das führende Journalismus-Blog PressThink, das 2005 mit dem Freedom Blog Award von "Reporter ohne Grenzen" ausgezeichnet wurde. Rosen bloggt außerdem regelmäßig für The Huffington Post und gründete im Juli 2006 NewsAssignment.Net, eine Open-News-Plattform für Amateurschreiber und professionelle Journalisten, die unter anderem von der Nachrichtenagentur Reuters mit 100.000 Dollar gefördert wird. Rosen ist Beiratsmitglied der Enzyklopädie Wikipedia und Autor des Buches "What are Journalists for?" (1999), das sich mit der Ausbreitung des Bürgerjournalismus beschäftigt.

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