Interview mit "Heimat"-Regisseur Edgar Reitz:"Das Fernsehen ist kein narratives Medium mehr"

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Der gebürtige Hunsrücker hat sein Lebenswerk vollendet: 54 Stunden "Heimat", das größte Filmprojekt aller Zeiten. Ein Gespräch mit einem erschöpften Genie.

SZ-Magazin-Interview: Johannes Waechter und Jan Weiler

SZ-Magazin: Ihr Heimat-Projekt gilt als umfangreichster Zyklus der Filmgeschichte: Es sind inzwischen dreißig Filme. Edgar Reitz: Die Gesamtlänge liegt bei 54 Stunden.

Erst zwei (im Jahr 200), dann drei (2004): Edgar Reitz auf dem Weg zur Trilogie. (Foto: Foto: dpa)

SZ-Magazin:Wie behalten Sie den Überblick über diesen Stoff? Edgar Reitz: Man kann es nur dadurch schaffen, dass man die jeweiligen Tagesaufgaben bewältigt. Um den Bezug zum Ganzen nicht zu verlieren, gab es Überprüfungsphasen, in denen ich die ganze Strategie durchgespielt habe.

SZ-Magazin:Wie stark hat sich das Fernsehen seit der Ausstrahlung von Heimat 1 vor zwanzig Jahren verändert? Edgar Reitz: Das Fernsehen ist inzwischen kein narratives Medium mehr. Zum Geschichtenerzählen gehört Zeit - das Fernsehen suggeriert uns aber, dass wir permanent unter Zeitmangel stehen. Jeder Film wird vorn und hinten eingekeilt vom Programmschema. Manches mag nicht darunter leiden, aber die Erzählkunst braucht den großen Atem. Die Atemlosigkeit des Fernsehprogramms prägt die Zuschauer und ihre Wahrnehmungsfähigkeit. Ich merke sogar an mir selbst, dass ich mit den Jahren ungeduldiger geworden bin.

SZ-Magazin: Sie setzen diesem Prozess eine künstlerische Entschleunigung entgegen? Edgar Reitz: Entschleunigung wäre zu wenig. Meine und jede Kunst ist ein Versuch, den Momenten, die unser Leben bestimmen, Dauer zu verleihen. Ein bisschen Ewigkeit in die kleinen Dinge des Lebens zu tragen, das ist eines meiner Ziele als Filmemacher. Was uns bewegt, muss dem Karussell des Konsums entrissen werden.

SZ-Magazin: Die ARD wird aber ein Interesse daran haben, dass die Quoten wieder besser sind als bei der Zweiten Heimat. Edgar Reitz: Es gibt Millionen Menschen auf der Welt, die die Zweite Heimat bis auf den heutigen Tag lieben! Das zu wissen ist für mich eine große berufliche Befriedigung. Bei der Dritten Heimat wusste ich von vornherein, dass ich eine Geschichte erzählen werde, die die Erinnerungen vieler Menschen mobilisiert. Die Tage nach der Maueröffnung, die Gefühle, die man im letzten Jahrzehnt hatte - das ist ja alles noch lebendig. Die meisten erwachsenen Deutschen werden sich und ihre Gefühle, die sie seitdem bewegen, im Film wiedererkennen.

SZ-Magazin: Wieso haben Sie angefangen, sich mit der Geschichte Ihrer Heimat auseinanderzusetzen? Edgar Reitz: Wie so oft im Leben war eine persönliche Krise der Auslöser. Ich hatte 1978 einen schwierigen Film produziert, den Schneider von Ulm. Mit diesem großen Ausstattungsfilm habe ich alles verloren, was ich besaß. Ich fand bei Freunden, die eine Ferienwohnung auf Sylt besaßen, über Weihnachten Unterschlupf, weil ich in München aus meiner Wohnung raus musste. Ich war vollkommen verzweifelt. Dann ging ein Schneesturm über Norddeutschland hinweg, der solche Gewalt hatte, dass die Eisenbahnverbindungen einfroren. Es dauerte über eine Woche, bis die Schienenwege wieder frei waren. Ich hatte also viel Zeit zum Nachdenken.

SZ-Magazin: Worüber haben Sie nachgedacht? Warum bin ich überhaupt Filmemacher geworden? Edgar Reitz: Damals eine bittere Frage, denn ich verwünschte alles, was mich in diese Pleite geführt hatte. Ich suchte die Gründe in der Familie und ich fing bei meinen Großeltern an. Selbsttherapeutisch, wenn man so will. Ich begann, soweit mir das durch reines Erinnern möglich war, Hunsrücker Geschichten aufzuschreiben. Als der Schnee weg war, hatte ich ein Exposé von hundert Seiten geschrieben.

SZ-Magazin: Sie haben das Stück dann "Heimat" genannt. Edgar Reitz: Es hieß erst Geheischnis, bis zum Drehbeginn.

SZ-Magazin:Geheischnis? Was bedeutet das? Edgar Reitz: Das ist ein Hunsrücker Dialektwort und bedeutet so viel wie Geborgenheit, menschliche Nähe. Ursprünglich stammt das Wort aus der Landwirtschaft. Es ist mit dem Wort Gehege verwandt, der abgesteckte Raum, in dem Mensch und Vieh leben. Meine Großmutter sagte beim Zubettbringen zu mir: "Wir zwei haben ein Geheischnis."

SZ-Magazin:Außerhalb des Hunsrücks ein ziemlich unverständlicher Titel. Edgar Reitz: Die Leute vom Kamera-Team haben "Heimat" auf die Klappe geschrieben, weil sie das Wort Geheischnis damit assoziierten.

SZ-Magazin: Und das hat sich dann durchgesetzt. Edgar Reitz: Zunächst noch nicht, aber Bernd Eichinger, der uns einmal beim Drehen besuchte, weil er eine kleine Rolle im Film übernommen hatte, sah die Klappen-Aufschrift und meinte: Du musst "Heimat" als Titel nehmen!

SZ-Magazin: Was ein Risiko war. Heimat war in den Achtzigern ein Unwort. Edgar Reitz: Es war mit lauter negativen Erinnerungen belastet. Heimat war bei den Nazis ein Propagandawort. Dann gab es in den fünfziger Jahren die seicht-kitschigen Heimatfilme. Ich war aber überzeugt davon, dass man das Wort von diesem Ballast befreien kann, und sagte mir: Weder die Nazis noch die Folklore-Musiker haben das Wort erfunden; sein wahrer Inhalt ist eigentlich unschuldig. Der Begriff Heimat hat eine große kulturgeschichtliche Vergangenheit. Ich sah bedeutende Philosophen an meiner Seite, die sich damit auseinander gesetzt hatten, zum Bei-spiel Ernst Bloch. In seinem Prinzip Hoffnung heißt es: "...so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat." Der Satz enthält die Vorstellung, dass Heimat etwas ist, das jeder von uns verloren hat.

SZ-Magazin: Das ist ein romantisches Motiv. Hatten Sie nicht Angst, altmodisch zu wirken? Edgar Reitz: Es funktioniert zu allen Zeiten. Es gibt ein Gedicht von Eichendorff, das Robert Schu-mann vertont hat: "Aus der Heimat hinter den Blitzen rot/ Da kommen die Wolken her/ Aber Vater und Mutter sind lange tot/ Es kennt mich dort keiner mehr." In dieser magischen Ferne, die wir alle verloren haben, liegt in Wahrheit das, was wir Heimat nennen. Ich habe mir gesagt, wenn ich den Film so nenne und wenn der Film es schafft, dieses Wort zu reinigen und ihm die falschen Assoziationen einfach auszutreiben, dann ist er gelungen.

SZ-Magazin: Und? Wie würden Sie den Film heute beurteilen? Edgar Reitz: Die Rechnung ist aufgegangen. Vor wenigen Tagen war hier ein Journalist aus London, der behauptete, das Wort Heimat sei seitdem ein Lehnwort im englischen Sprachraum.

SZ-Magazin: Haben die kein eigenes Wort für Heimat? Edgar Reitz: Eben nicht, nein. Das Gefühl, die Erfahrung, kennen alle Menschen. Nur das Wort haben nicht alle. Im Russischen gibt es rodina. Das bedeutet etwa dasselbe. Aber es gibt weder im Englischen noch im Französischen noch im Italienischen eine direkte Analogie zu Heimat. Es ist ein melancholischer Begriff. Stimmt, es enthält ein Element des Verlorenen. Ich habe mal mit einem Sprachwissenschaftler gesprochen. Er meinte, man könne das Wort auf die Zeit der Völkerwanderung zurückführen, also sechstes bis achtes Jahrhundert. Damals haben die Menschen als Erwachsene nur noch selten Haus oder Bett an dem Ort gehabt, den sie als Kinder kennen lernten. Die Wanderschaften ganzer Volksstämme führten zur permanten Entfremdung von vertrauten Orten. In diesem Erfahrungsfeld ist wohl das Wort Heimat entstanden. Und leben wir nicht wieder in einer Zeit der Völkerwanderungen?

SZ-Magazin: Sie haben in dem großen Bildband zur Heimat-Trilogie geschrieben: "Ich meine, dass unbemerkt auf der inneren Landkarte zahlloser Menschen ein zweites Land existiert; das eine bewohnen sie, das andere ist darin versteckt." Wie ist dieser Satz zu verstehen? Edgar Reitz: Ich versuche es Ihnen in einem Bild zu erklären. In meiner Straße befinden sich eine Tankstelle, eine Kneipe, eine Ampel-anlage, Geschäfte und dergleichen. Das sind Dinge, die in unserem Leben überall vorkommen, mit denen man lebt und an denen man sich auch orientiert. Sie werden im Allgemeinen auch gleich bewertet. Wenn ich aber sagen würde: Es gibt in meiner Straße, kurz bevor es regnet, einen Geruch, der erinnert mich an einen bestimmten Nachmittag, den ich als Kind erlebt habe. Dann ist in dieser Straße etwas verborgen, was nicht unbedingt ein anderer, der auch in dieser Straße lebt, mit mir teilt.

SZ-Magazin: Es ist fast nicht mehr möglich, diese Empfindungen zu kommunizieren, weil sie im globalen Dorf nicht mehr verstanden werden. Edgar Reitz: Ich würde es eher so formulieren: Diese Dinge sind nicht kommerziell. Aber wenn ich ihre Geschichte erzähle, weiß ich, dass ich damit bei ganz vielen Menschen etwas auslöse.

SZ-Magazin: So, wie Sie erzählen, finden Sie im Prinzip kein Ende. Was passiert in Heimat 4? Edgar Reitz: Ich weiß, was nicht passiert. Es wird nicht passieren, dass ich ein Drehbuch schreibe und es wieder bei einer Fernsehredaktion einreiche oder es einem Gremium vorlege. Wenn ein Filmprojekt so anfangen muss, ist man bereits weit weg von den Inspirationsquellen.

SZ-Magazin: Das klingt bitter. Edgar Reitz: Überhaupt nicht, denn ich habe die Dritte Heimat schließlich zustande gebracht. Aber die Geldbeschaffung für das Projekt hat einfach zu lange gedauert. Ich habe zehn Jahre lang nichts anderes getan als zu kämpfen.

SZ-Magazin: Sind Sie ein Dickkopf? Edgar Reitz: Ich bin nicht korrumpierbar. Das ist vielleicht ein großes Wort, aber ich habe nie im Leben den Verlockungen nachgegeben, mit angepasster Arbeit das schnelle Geld zu verdienen. Aber erst mal ist es jetzt ein schönes Gefühl, dass ich es geschafft habe und dass ich mit Heimat 3 die Trilogie vollenden konnte. Das sind dreißig abendfüllende Filme! Und jetzt noch dieser Bildband, ein wunderschönes, gewichtiges Buch, über das ich mich besonders freue!

SZ-Magazin: Das Buch erscheint jetzt, der Film kommt Weihnachten ins Fernsehen. Was machen Sie am 1. Januar 2005? Edgar Reitz: Ich warte seit Jahren darauf, ein Filmbuch für Kinder zu schreiben. Das ist mir ein großes Anliegen, denn die Filmkunst ist auf ein Publikum angewiesen, das Maßstäbe besitzt. In zivilisierten Ländern lernen wir mit sechs Jahren lesen und schreiben. Aber wo lernen wir, Filme zu verstehen? Kindern könnte man die Geheimnisse der Filmkunst spielerisch offenbaren. Und wenn man so ein Buch mit einer ganzen Sammeledition von schönen Filmen und aufregenden Filmszenen auf DVD ergänzt, müsste das viele Kinder begeistern. Ich habe die Hoffnung, dass wenn einer in seiner Jugend die schönsten Filme der Welt gesehen hat, ihm hinterher nicht mehr jede Scheiße gefällt.

© SZ Magazin vom 17.9.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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