Internetvideo der Woche:Dem Genitiv sein kleiner Tod

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Als hätte sich Bastian Sick mit russischem Akzent in die "Sexy Sport Clips" im DSF verirrt: HotForWords, die laszivste Lehrerin des Internets, erklärt den Ursprung der Wörter.

C. Kortmann

"Infotainment" ist ein dummes Wort, meist wird es abwertend für die Mischung von Information und Unterhaltung benutzt. Doch wie sollte man Menschen für ein Thema begeistern, wenn man es nicht attraktiv vermittelt? Medien gehen immer mit der Zeit, nutzen alle Mittel, um Inhalte an den Mann zu bringen: Schon das wissenschaftliche Telekolleg im Fernsehen hatte unterhaltende Anteile, die in späteren Sendungen wie der "Hobbythek" mit Rauschebart Jean Pütz oder seinem Kinderprogramm-Pendant, Peter Lustigs "Löwenzahn", deutlicher wurden. Diese Präsentatoren waren beste Unterhalter, und immer lernte ihr Publikum etwas dazu.

Wie begeistert man nun ein nach Aufmerksamkeitskicks suchendes Internetpublikum, das schon bei 45-Sekunden-Videos unruhig die "Related Videos" in der Randspalte beäugt, für die Lehre von der Herkunft der englischen Sprache? Der Videobloggerin HotForWords gelingt genau das durch ein Spiel mit Reizen: indem sie Sex offeriert, obwohl die User wissen, dass sie bei YouTube keinen Sex bekommen werden. Doch das Zusammenspiel von Sprache und Schlüpfrigkeit, das Verhüllen des Körpers und Enthüllen der Wörter, hat einen Sog, der die HotForWords-Reihe auch nach mehr als 230 Folgen sehr erfolgreich macht.

In ihrem populärsten Clip erläutert sie eines der längsten und kompliziertesten Wörter der englischen Sprache, bei dem schon das fehlerfreie Ablesen eine Herausforderung ist: Antidisestablishmentarianism. Es beschreibt eine Geisteshaltung, die sich gegen die Trennung von Kirche und Staat wendet. Didaktisch einwandfrei erklärt HotForWords das Werden des Wortes seit seinen Anfängen im 19. Jahrhundert und wird an passender Stelle ironisch: Die Leute hätten das Wort "Antidisestablishmentarians" so gerne ausgesprochen, dass sie entschieden hätten, es noch länger zu machen.

Heute sei "Antidisestablishmentarianism" vor allem wegen seiner Länge bekannt, werde aber kaum noch benutzt. Dass die äußere Erscheinung die inneren Werte überdeckt, ist der Videobloggerin mit dem Motto, Intelligenz sei sexy, vielleicht sogar ganz recht. Den Angaben auf ihrer Website zufolge heißt die studierte Philologin mit dem Spezialgebiet Etymologie Marina Orlova und ist 27 Jahre alt.

In ihren Clips gibt sie die strenge Lehrerin, die mit rauer Stimme für Ruhe bei den Hinterbänklern sorgt. HotForWords wendet sich an eine weltweite Schülerschar, wobei die Inszenierung von Klassenzimmer-Intimität gelingt. Ihre Reize stellt sie aus, die Kamera fällt beinahe ins Dekolleté hinein, doch hinterm Flashplayer-Fenster ist sie unerreichbar wie einst der Schülerschwarm hinterm Pult. Wer sich Mühe gibt und die Hausaufgaben streberhaft löst, kann immerhin Teacher's Pet, Lehrerins Schoßhündchen, werden.

In einem weiteren Video thematisiert sie die Fälschungsbegriffe "Fake" und "Phoney". Sie sei selbst oft als Fälschung bezeichnet worden, erläutert HotForWords und zeigt ein Foto, auf dem sie für ein Shooting geschminkt ist. Brüste, Handtaschen, Identitäten, wer vermag heute noch zweifelsfrei zu sagen, ob diese Dinge echt sind, und für wen spielt das noch eine Rolle? Das ist ja das Gegengewicht in den HotForWords-Clips: dass an der Präsentation garantiert nichts echt ist, die ist pures Entertainment, dafür sind die Wörter um so echter und strahlen in wahrem Glamour.

So lernt man manches, von dem man noch nicht wusste, dass man es wissen wollte, und sich auch nicht getraut hätte, Peter Lustig zu fragen. Die Wörter "Naked" und "Nude" zum Beispiel haben im Lauf der Zeit ihre Konnotation getauscht. Während bei "Nude" früher Anzügliches mitklang, ist heute "Naked" der pornographische Fachbegriff.

Die Pointe dieses Clips erinnert an die eines MAD-Heftes aus den achtziger Jahren: "Hier können Sie Nena nackt sehen!", stand damals auf dem Cover, um dem Leser im Heft mitzuteilen, er möge sich bitte ausziehen und das Bild der voll bekleideten Nena betrachten. Man habe einen "Naked Vlog" von ihr gewünscht, erläutert dementsprechend HotForWords, deshalb habe sie diesen geliefert.

Am Schluss der Clips kommt sie den Usern noch ein Stückchen näher, bedankt sich, zeigt Aufnahmepannen, die ihr Schauspiel entlarven, und Bilder, auf denen sie posiert. Kurzer Rock, enges Top, Brillenbügel im Mund, Buch vor den Knien, bisweilen wirkt das so, als hätte sich Bastian Sick mit russischem Akzent in die "Sexy Sport Clips" im DSF verirrt, wo nun Englischnachhilfe statt Rumhüpf-Tennis oder Synchronduschen auf dem Programm stehen.

Doch HotForWords zeigt nie mehr als sie verspricht, sie spielt ihr Spiel mit dem körperlich Offensichtlichen und den etymologischen Geheimnissen unter der Sprachoberfläche. Nackt stehen bei HotForWords am Ende nur die Wörter da.

Die Kolumne "Das Leben der Anderen" erscheint jeden Donnerstag auf sueddeutsche.de. Bookmark: www.sueddeutsche.de/lebenderanderen

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