Internetvideo der Woche:Ab in die Falle

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Scott Macartneys Sturz bestätigte den Ruf der Kitzbüheler Streif als gefährlichste Abfahrt der Welt. Ein Skifahrer sucht die Gefahr und nimmt den Mausefallen-Sprung mit einem Rückwärtssalto.

Christian Kortmann

Am vergangenen Samstag stürzte Scott Macartney beim Zielsprung des Ski-Abfahrtrennens auf der Kitzbüheler Streif. Die Fernsehbilder von seinem zuckenden Körper, der in den Zielraum rutschte und regungslos liegen blieb, verdarben manchem den Appetit aufs späte Frühstücksei. Das Streif-Monster zeigt seine Zähne nur selten - aufgrund schwindenden Januarschnees wurde die Strecke zuletzt 2004 komplett gefahren -, seine Gefährlichkeit wird durch solche Szenen aber im öffentlichen Bewusstsein festgeschrieben. Eine Legitimation für die Sturzbilder gibt es erst im Nachhinein, mit der Versicherung, dass der Fahrer, wie in Macartneys Fall, wohlauf ist und keine bleibenden Schäden davonträgt.

Eine der mythischen Stellen der Streif ist die Mausefalle, ein Sprung direkt nach dem steilen Starthang. Die Fahrer beschleunigen im Tempo eines Sportwagens von null auf 100 km/h, fliegen über die Kante 60 Meter nach unten und landen in der 85 Prozent steilen Wand, deren Oberfläche meist aus Eis besteht. Wegen zu gefährlichen Aufwindes wurde die Mausefalle in diesem Jahr ausgelassen, und der Start nach unten verlegt.

Der überraschende Überraschungsgast

Dafür hat sich der Free-Skier Sven Küenle in der Woche vor dem Rennen ausgiebig mit dieser Streif-Passage beschäftigt, wie sein Clip "Backflip 'Mausefalle' Kitzbühel" zeigt. Abweisend, im kalten Morgenlicht, liegt sie am Filmanfang da, die Streif, als wollte sie sagen: "Vergiss es, geh woanders spielen!" Man sieht die typischen Bilder am Starthäuschen, nur steht Küenle weniger nervös da als üblich, und solch eine Haarpracht samt Vollbart hat sonst auch kein Fahrer unterm Helm. "Ich bin die Mausefalle heute mal'n bisschen auf 'ne andere Art und Weise gefahren", kündigt er lässig seine nicht geringe Leistung an.

An einer der gefährlichsten Stellen, die es beim Hahnenkamm-Rennen zu überstehen gilt, dort, wo die Fahrer eigentlich versuchen, die verlangsamende Flugeinlage zu minimeren, schüttet Küenle eine kleine Schanze auf und macht den Sprung zum Selbstzweck: Warum sollte es an der Mausefalle nicht mal ein Rückwärtssalto sein?

Der Clip zeigt den zweiten Salto-Versuch, den Küenle nach eigenen Angaben stehen konnte. Beim ersten Mal soll die Bindung gebrochen sein, als er auf der vereisten Piste landete. Das Gelingen des Tricks wird in dem professionell produzierten Clip aus verschiedenen Perspektiven gefeiert. Mit der V-Stellung der Skier zitiert Küenle die Disziplin Skispringen und zeigt, dass er als Spieler auf Skiern alle Kniffe beherrscht und vermengen kann.

Für die größte Irritation in diesem Clip sorgt aber nicht der spektakuläre Trick, sondern der überraschende Überraschungsgast: Ausgerechnet der wie immer frisurentechnisch wunderbar aufgefluffte Schlagersänger Hansi Hinterseer gleitet ins Bild, superschick in türkisfarbenem Skianorak mit goldenen Toddeln. Angeblich war er zufällig bei den Dreharbeiten anwesend, nutzte die Gelegenheit aber dankbar, um den Sprung als Experte einzuordnen: Die Rennfahrer seien sonst froh, wenn sie in der Mausefalle auf den Beinen blieben, und jetzt käme einer, der machte einfach einen Rückwärtssalto hinunter: "Das ist die junge Generation."

So seltsam es unter dem Einfluss seines heutigen Schaffens klingt, Herr Hinterseer weiß, wovon er spricht: In den siebziger Jahren war er einer der besten Skifahrer der Welt und gewann 1974 den Slalom in seiner Geburtsstadt Kitzbühel.

Und denkt man länger darüber nach, wirkt es wie eine kluge Brechung, dem kühnen Charakter der Streif eine Portion Hinterseer'scher Belanglosigkeit gegenüberzustellen. Phänotypisch vertritt er das Kitzbühler Publikum, das das Hahnenkamm-Rennen als große Party zelebriert. Zwar weiß jeder Partygast, dass sich die Fahrer am Berg großer Gefahr aussetzen, unten im Zielraum und an den Fernsehgeräten hat sich das Adrenalin der Extrembelastung aber längst in champagnisierte Stimmung verwandelt: Man ist freudig erregt, weil man dabei ist, wenn ein paar Dutzend mutige Männer in Grenzbereiche vordringen.

Deshalb, um seinen Respekt vor den Abfahrern zum Ausdruck zu bringen, hat Sven Küenle den Rennanzug der deutschen Alpin-Nationalmannschaft angezogen. Sein Mausenfallen-Rückwärtssalto demonstriert an der Wiege des Skifahrens, wie sich durch eine innovative Technik die Bewegung in der Landschaft verändert, und verdeutlicht übergroß, was das Wesen des Skisports ist: Wer eine Abfahrt gewinnen will, der muss seine "eigene Linie" finden.

Auf der Suche nach dieser Linie verirrte sich Bode Miller bei der diesjährigen Streif-Abfahrt und schlitterte mit den Skiern an einer Fangmatte entlang, funktionierte sie also zur Steilkurve um. Wäre diese Szene nicht Resultat von Millers Überlebenswillen und Improvisationskunst gewesen, könnte man in ihr eine Hommage an die freiesten Linien der Free-Skier sehen.

Die Kolumne "Das Leben der Anderen" erscheint jeden Donnerstag auf sueddeutsche.de. Bookmark: www.sueddeutsche.de/lebenderanderen

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