Interimslösung:Eher solide denn visionär

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Carsten Gerhard leitet die Europäischen Wochen in Passau

Von Sabine Reithmaier, Passau

Am idealen Intendanten für die Europäischen Wochen schnitzt der Trägerverein noch. Nach der finanziellen Krise im Frühsommer, die in die Trennung vom bisherigen Intendanten Thomas E. Bauer und abgespeckten Festspielen mündete, denkt der Verein derzeit in zwei Arbeitsgruppen über Leitbilder und die neuen Regeln der Zusammenarbeit zwischen Verein und künftigem Intendanten nach. Bis die Stelle wieder ausgeschrieben wird, hat Carsten Gerhard die künstlerische Leitung übernommen. Der Münchner Kulturmanager schwärmt von der Zusammenarbeit mit dem Verein - "läuft super" - und hat das Programm für die nächste Saison bereits weitgehend fertig. Allerdings verzichtet er darauf - und das unterscheidet ihn am meisten von einem Intendanten -, seine Ideen als geniale Visionen zu verkünden.

Wobei er durchaus eigene Akzente setzt. Carsten Gerhard fühlt sich zwei Aufträgen verpflichtet: zum einen dem bereits in der Satzung des Trägervereins verankerten Auftrag zur Völkerverständigung, zum anderen dem Ziel, Highlights internationaler Gastspielkultur nach Passau zu holen. Zum "Festspielprogramm mit Goldkante" (Gerhard) zählen das Konzert mit der Amsterdam Sinfonietta (5. Juli), das Concerto Köln mit "Bach in Italien", das Beethovenprogramm mit Geiger Frank Peter Zimmermann (12. Juli) oder der Abend mit der Koloratursopranistin Julia Lezhneva und dem Doppelsolisten Dmitry Sinkovsky, der sowohl als Countertenor als auch als Barockgeiger brilliert (29. Juni). Reizvoll, wenn auch lang (drei Stunden) ist der Versuch, das historische Konzert zu rekonstruieren, in dem Ludwig van Beethoven auch als Veranstalter auftrat: seine erste "Akademie" im Wiener Burgtheater im April 1800 - wer Karten wollte, musste sich in die Wohnung des Meisters bemühen. Beethoven verortete sich im Programm damals zwischen Haydn und Mozart. Damit das Experiment gelingt, hat das Festival einen der gefragtesten Spezialisten auf historischen Tasteninstrumenten eingeladen: Kristian Bezuidenhout wird begleitet von der Nationalphilharmonie Prag (20. Juli).

Die Völkerverständigung treibt Gerhard mit Austauschprogrammen voran: Zum einen werden junge Passauer Musikschüler an entsprechenden Veranstaltungen der Sinfonietta Amsterdam teilnehmen, außerdem gibt es eine Zusammenarbeit mit der Academy of St. Martin in the Fields, dem auf Barockmusik und Wiener Klassik spezialisierten Kammerorchester aus London. Aber der künstlerische Leiter legt nicht nur auf Musik wert, sondern auch auf das Wort und auf eine politische Aussage. Die Berliner Theatergruppe Rimini-Protokoll ist mit "Hausbesuch Europa" zu Gast, geplant sind auch Veranstaltungen mit Lina Prosa, die in ihren Lampedusa-Stücken das Flüchtlingsthema aufgreift, oder Christian Torkler, der im Roman "Der Platz an der Sonne" seine Hauptfigur aus den Slums der Neuen Preußischen Republik ins wohlhabende Afrika fliehen lässt.

Gerhard belebt auch die in Vor-Bauerschen Zeiten gepflegte Tradition der Ausstellung wieder: Stefano Torrione hat vier Jahre die Schlachtfelder des Ersten Weltkriegs in den Alpen fotografiert, der abschmelzende Schnee der Gletscher gibt immer mehr Hinterlassenschaften des Krieges frei. "Da mischt sich das Drama von gestern mit der Klimaerwärmung, unserem aktuellen Drama", sagt Gerhard. Und überlegt, ob er die Schau mit der Auflistung der Kriegstoten Europas ergänzen soll. "Frieden ist schließlich keine Selbstverständlichkeit."

© SZ vom 15.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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