Ingo Schulze über seine NVA-Zeit:Was aber hätte ich getan?

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In den 80er Jahren absolvierte der Schriftsteller Ingo Schulze den Grundwehrdienst bei der NVA. Er erinnert sich an das Ausrücken bei Alarm, an Befehle über Funk - und fragt sich, wie er sich in einem Ernstfall verhalten hätte.

Ingo Schulze

Spätestens in der siebten Klasse wurden wir Schüler gefragt, ob wir Berufssoldat oder Offizier der NVA werden wollten. Bei einem Klassentreffen vor zwei Jahren erzählte meine frühere Deutschlehrerin, die zugleich stellvertretende Direktorin gewesen war, davon, wie sie alle zwei Wochen über den Stand dieser Werbungsgespräche an die übergeordnete Behörde hatte berichten müssen. Wenn man schon nicht Offizier oder Berufssoldat werden wollte, dann sollte man zumindest drei Jahre zur Armee gehen. In diesen "Gesprächen" wurde dies als Voraussetzung bezeichnet, um zur Erweiterten Oberschule delegiert zu werden, wodurch man erst die Möglichkeit bekam, das Abitur zu machen.

Was ich als Erfolg angesehen hatte, nämlich auf den 18 Monaten Grundwehrdienst zu beharren (eigentlich gab es dafür von offizieller Seite keine wirkliche Begründung, denn wen die Arbeiterklasse bevorzugt, von dem darf sie auch eine entsprechende Gegenleistung erwarten), erwies sich schon bald als Opportunismus. Denn in der 9. Klasse war mein Banknachbar (wir waren 14) ein Wehrdienstverweigerer.

Diese Konstellation konnte es (so viel ich weiß) nur an der Dresdner Kreuzschule geben, in der die Mitglieder des Kreuzchors auf die verschiedenen Klassen verteilt waren. Ich traf auf jemanden, der für seine Überzeugung einstand. Dass seine schlechten Augen ihm mit großer Sicherheit die Armee erspart hätten, spielte für ihn keine Rolle. Meine Mutter, die mir zuvor nie etwas wirklich vorgeschrieben hatte, zog irgendwann die Notbremse und verbot mir, das Wort Wehrdienstverweigerung in den Mund zu nehmen, solange ich nicht volljährig sei. Dann könne ich ja machen, was ich wolle. Mein Freund und Banknachbar, unser Klassenprimus, musste nach der 10. Klasse die Schule und den Kreuzchor verlassen.

18 Monate, 18 Dreiecke

Da ich mich mit 18 Jahren nicht mehr reinen Gewissens auf "christliche Motive" bei einer Verweigerung hätte berufen können, in der DDR bleiben und studieren wollte, trat ich nach dem Abitur den Grundwehrdienst an, im sogenannten "Mot.-Schützenregiment 1" in Oranienburg. Wir waren untergebracht in den früheren SS-Kasernen des ehemaligen KZ Sachsenhausen, auf dessen Lagertor wir sahen, wie auch auf eine Stele mit achtzehn roten Dreiecken, denn Häftlinge aus achtzehn Ländern waren im KZ Sachsenhausen ermordet worden. Die Anzahl der roten Dreiecke war wie geschaffen dafür, unsere 18 Monate daran abzuzählen.

Dass ich nicht zu den Grenztruppen kam, war klar. Ein Jahr vor meiner Einberufung hatte die Staatssicherheit meiner Mutter und mir (fälschlicherweise) geplante Republikflucht unterstellt. Außerdem hatten wir Westverwandtschaft.

Ich bewunderte und bewundere all jene, die den Mut hatten, den Dienst an der Grenze zu verweigern. Dies war möglich, auch wenn man dann besonders weit entfernt vom Wohnort stationiert wurde. Im Grunde aber gab es für uns alle, die den Fahneneid geleistet hatten und irgendwann mit scharfer Munition auf Wache zogen (um das Regiment zu bewachen, was vor allem hieß, den Alkoholschmuggel der Soldaten zu unterbinden), einen Schießbefehl, wenn auch nach (wenn ich mich richtig erinnere) drei Vorwarnungen.

Dass die Diskussion um eine Wehrdienstverweigerung gar nicht so abstrakt gewesen war, wie selbst mein mutiger Banknachbar geglaubt hatte, erfuhr ich zwei oder drei Wochen nach meinem Fahneneid, als am 13. Dezember 1981 das Kriegsrecht in Polen ausgerufen wurde. Wir wussten, dass unser Regiment schon im Sommer mit scharfer Munition ausgerückt war. Mein Stubenältester behauptete, er habe als letzte Handlung noch die Schilder für die nachrückenden Reservisten aufgestellt.

Die Angst, in Polen einmarschieren zu müssen, kam auch aus dem Glauben, dass die NVA bereits 1968 in die Tschechoslowakei eingerückt wäre, was sich, wie ich jetzt weiß, als Fehlinformation erwies. Ich hatte Freunde in Leningrad, die fürchten mussten, als Offiziere nach Afghanistan geschickt zu werden.

Wer einmal eine Uniform getragen hat, bei Alarm ausrücken musste, die Außenwelt - wenn überhaupt - nur durch ein Fadenkreuz zu sehen bekam und die Befehle über Funk empfing, kann sich nicht sicher sein, wie er sich im Ernstfall verhalten hätte. Ich hoffe und glaube, dass ich nie geschossen hätte. Was aber hätte ich getan?

Wie ich 1995 einem Buch, erschienen im Berliner Akademie-Verlag, entnehmen konnte, hatte unser Einsatz am seidenen Faden gehangen. Honecker wollte eingreifen, denn wenn die Polen nicht mehr Brudervolk sein wollten, fürchtete er, die DDR könnte zum Blinddarm des Ostblocks degradiert werden. Die Sowjetunion zauderte, Breschnew war krank und der Einsatz in Afghanistan hatte sich bereits zu einem Fiasko entwickelt. Gerettet hat uns - glaubt man den damaligen Protokollen - der rumänische Diktator Nicolae Ceausescu. Er sagte nein, woraufhin auch der Ungar Kadar ausscherte und die Intervention unterblieb.

Kasernenmauer, Berliner Mauer

Viele Diskussionen in der Kaserne kreisten um die Frage, ist der Unterschied zwischen dem Leben außerhalb und innerhalb der Kasernenmauern ein qualitativer oder ein quantitativer. Was heute wie verstiegenes Gerede erscheint, war für den alltäglichen Umgang miteinander sehr wichtig. Wer es für einen qualitativen Unterschied hielt, der fand, dass die DDR anders war als ihre Armee. Wer nur einen quantitativen Unterschied sah, der setzte die Kasernenmauer mit der Berliner Mauer in Beziehung, was in Oranienburg, also an der Grenze zu Westberlin, recht anschaulich erfahren werden konnte.

Ich weiß nicht, welche Folgen der soeben wiedergefundene Schießbefehl für eine Spezialeinheit der Staatssicherheit in der Praxis hatte. An der Ungeheuerlichkeit der Mauer änderte er so oder so nichts. Die im Zusammenhang mit dieser Meldung genannte Zahl von mehr als 2800 geflohenen Grenzsoldaten überraschte mich allerdings angenehm.

Schwierig wird es, wenn man nach den Konsequenzen solch einer Mauer-, Armee-, Schießbefehlerfahrung fragt. Vor etlichen Wochen fand ich in dieser Zeitung unter der Rubrik "Mitten in..." eine Glosse mit der Überschrift: "Long Island". Darin hieß es: "Eine Demonstration. Auf der einen Seite stehen Amerikaner mit Schildern, auf denen es heißt, ,Aliens' müssen aus dem Land geworfen werden. ,Sie sprangen über den Zaun, sie brachen das Gesetz.' Auf der anderen Seite stehen Mexikaner, die darauf warten, für ein paar Dollar in einem der Strandhäuser den Pool putzen oder Rasen mähen zu dürfen. Die Polizei ist da. Da mischen sich Touristen ein. Ihnen passt nicht, wie hier über Ausländer geredet wird, sie sind selber welche. ,From Germany.' Dann müssten sie aber verstehen, sagt der Demonstrant, sie hätten doch damals sogar eine Mauer gebaut, damit keine Fremden einrücken. Das hatte man bisher ganz anders gesehen."

© SZ v. 14.8.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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