Indie-Pop:Dauerrausch

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Die "Sportfreunde Stiller" geben drei Heimspiele zum Tourabschluss

Von Michael Zirnstein, München

Spektakulär war schon, wie Peter Brugger da hinaufgekommen ist: Auf Händen durch den Saal getragen, mal mit dem Kopf unten im Gewühle und den Beinen zur Decke, mal wie ein Artist auf den ausgestreckten Armen balancierend und dann eben mit vereinten Kräften auf den Balkon der Alten Kongresshalle gewuchtet. Die Frage ist nun: Wird er es wagen, sich wieder hinabzustürzen, vom ersten Stock aufs Parkett? Über dem Abgrund krallt sich der Frontmann am Geländer fest, alle Kamerahandys auf ihn gerichtet. Es wäre einer dieser Konzertmomente für die digitale Ewigkeit - Stagediving für Bekloppte.

Es gibt mehrere Arten von Sprüngen bei diesem ersten von drei Abenden der Sportfreunde Stiller zum "Finale dahoam" ihrer "Sturm & Stille"-Tournee, ihrem "Triple". Einmal etwa postieren sich die drei im Gegenlicht auf beiden Boxentürmen und dem Schlagzeugpodest und springen mit großer Geste gemeinsam hinab, was zeigen soll, dass sie prima eine echte Rockband spielen können. Weil Schlagzeuger Flo Weber aus 50 Zentimetern Höhe aber verzögert, landen Peter Brugger mit der Gitarre und Rüde Linhof samt Bass trotz 1,20 Meter Falltiefe früher - worüber sie eine Weile diskutieren. Das wiederum zeigt, dass sie keine Klon-Band sind, sondern Individuen, die, auch wenn's anders ausgemacht war, doch tun dürfen, was sie wollen. Jeder nimmt sich heraus, jederzeit zu reden, mit bekannten Gesichtern im Publikum, oder wenn er ein politisches Anliegen hat. Linhof zum Beispiel, wenn er schluchzend sagt, wie gerührt er sei, als ihm die Publikumsfreunde aus Papier gebastelte Herzen entgegenhalten wie Hunderte Tengelmann-Kassierer. Oder wenn er sagt, dass Heimat für ihn ein Ort sei, an dem Menschen lebten mit Herz und Verstand, wie München eben, und dass alle bitte zur großen "Demo für eine offene und angstfreie Gesellschaft" am 22. Dezember gehen sollen, denn "es sind nur ein paar Idioten, die querschießen, und deswegen müssen wir uns zeigen".

Die eigentliche Hymne des Sportfreunde-Freundeskreises ist daher "Auf der guten Seite" von 2002. Auch wenn es beliebtere Lieder gibt, die die treuen Begleiter und die Ü-40-Musiker selbst wie eine Nostalgiedroge in den Glückstaumel der Nullerjahre beamen: "Wellenreiten '54", "In all den Wunderbaren Jahren", "Ein Kompliment" oder der Wiesn-Abgeh-Hit "Ich, roque". Aber immer schon gab es nicht nur den Rausch, den Sex ("7 Tage, 7 Nächte"), das Glück und die Sprache der Jugend ("Willst du mit mir geh'n"), sondern auch einen tieferen Wert. Die Sportis Softies? Mag sein. Aber auf die sanfte Tour haben sie mehr bewegt als manch Punk-Rebell, man denke an das Flüchtlingshelfer-Open-Air auf dem Königsplatz. Das Andiskutieren gegen Mietwucher, Kohlenmonoxid und ein "Lügenmeer" einte die sportliche Familie von Anfang an: "Ich und du und ein paar Leute, wir sind auf der guten Seite".

Brugger kann also sorglos einen ersten Standard-Hopser von der Bühnenkante machen, die Menge wartet auf ihn dicht gedrängt. Alles sind Freunde. Da wird der namensgebende Fußballtrainer Hans Stiller begrüßt und eine energische Frau entdeckt ("Boah, die Anita!"), der man dankbar dafür sein muss, dass Linhof in die Band kam (irgendwie wegen eines Lochs im Abendkleid und dem Biedersteiner Kellerfasching). Jeder kennt jeden - aber das gilt auch für die Hits, die eben nicht das angekündigte Überraschungsprogramm sind, sondern die Nummer sicher. Vielleicht wagen die Sportfreunde bei den folgenden zwei Heimspielen in der Muffathalle und der Tonhalle (am Dienstag, mit Überraschungsvorgruppe) mehr.

Die Freiheit, die ihnen die Fans geben, wie Brugger im Danke-Song "Auf Jubel gebaut" singt, sollten sie sich mehr nehmen, live wie auf Platte. "Es muss was Wunderbares sein" mag - vom Drummer Weber gesungen - scheps klingen, ist aber ein wichtiger künstlerischer Schritt. Die Sportis singen da erstmals nicht eins zu eins von sich selbst, sie schlüpfen in die Rolle eines selbstverliebten Arschlochs. Auch ihr elektronisch aufgedrehter "Lumpi" springt toll aus der Reihe, nur lassen sie ihn eben nicht wirklich von der Leine, sondern halten ihn kurz und betten ihn in den alten Kracher "Erste Wahl" ein. Die Sportfreunde brauchen weniger Reife ("Ich bin so glücklich wie nie, so traurig wie selten") als vielmehr Fallhöhe. Die hat Peter Pan Brugger nach 150 Minuten am Balkongeländer erreicht. Auch wenn es bescheuert ist, er springt - ein guter Ansatz.

© SZ vom 20.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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