Im Kino: "Genesis":Im Anfang war das Streichholz

Lesezeit: 4 min

Evolution als Spielfilm: Die Macher von "Mikrokosmos" erzählen ein Naturmärchen über die Entstehung des Lebens.

Von Titus Arnu

Woher komme ich, wohin gehe ich? Bin ich an dem Tag geboren, an dem meine Mutter mich auf die Welt brachte? In der Nacht, in der meine Eltern sich liebten? Diese Galaxie aus Atomen, aus der sich der Körper zusammensetzt, wo war sie vor meiner Existenz? Wo und wie nahm die Welt ihren Ursprung und wie entwickelt sich Leben? Und was soll das eigentlich alles?

Grandiose Naturaufnahmen

Solche tief schürfenden Fragen stellt der Naturfilm "Genesis" von Claude Nuridsany und Marie Pérennou. In ihrem zweiten Kinofilm nach "Mikrokosmos" aus dem Jahr 1996 faszinieren die französischen Regisseure erneut mit grandiosen Naturaufnahmen.

"Mikrokosmos" schilderte damals das pralle Leben auf einer blühenden Wiese, die aus dem Blickwinkel von Makro-Objektiven so groß wie ein eigener Planet wirkte. "Genesis" wählt die umgekehrte Perspektive: Das Universum schrumpft unter einer Lupe zu übersichtlicher Größe zusammen.

Die Rahmenhandlung des Films besteht dabei tatsächlich aus nichts geringerem als der Deutung, wie und warum das Leben entstanden ist, was der Sinn der vielfältigen Varianten des Fortpflanzens ist und welche Rolle der Mensch im gesamt-galaktischen Zusammenhang spielt. Aber lässt sich in 80 Minuten das gesamte Universum erklären? Ein mutiges Vorhaben. So etwas kann nur funktionieren, indem man stark vereinfacht und poetische Bilder benutzt.

Immerhin rätseln Wissenschaftler schon seit Generationen über die Entstehung des Lebens vor etwa vier Milliarden Jahren. Wie aus anorganischen Stoffen Biomoleküle werden können, hatte 1953 erstmals Stanley Miller in seinem legendären Ursuppen-Versuch demonstriert: Der Doktorand setzte ein Gemisch aus Methan, Ammoniak, Wasser und Wasserstoff blitzähnlichen elektrischen Entladungen aus. Damit wollte Miller den Einfluss von Gewitter auf die Ur-Atmosphäre sowie den Ur-Ozean simulieren.

Das Experiment lieferte ein überraschendes Ergebnis: Schon nach wenigen Tagen hatten sich in der Ursuppe wichtige Aminosäuren wie Alanin und Glycin gebildet - Bestandteile von Eiweißen und damit Grundbausteine des Lebens.

Ur-Suppe oder Ur-Pizza?

Doch zweifelsfrei bewiesen ist die Theorie von den Blitzen und der Ursuppe bis heute nicht. Der Münchner Chemiker Günther Wächtershäuser entwickelte dagegen Anfang der achtziger Jahre die Theorie einer "Ur-Pizza", nach der die ersten Moleküle des Lebens mit größerer Wahrscheinlichkeit auf der zweidimensionalen Oberfläche von Eisensulfiden entstanden seien anstatt in der Ursuppe. Andere Forscher spekulieren, dass die Grundbausteine des Lebens womöglich durch Meteoriten aus dem All auf die Erde gelangten.

Heute weiß man zumindest, dass die Uratmosphäre ein wenig anders zusammengesetzt war, als von Miller angenommen. Trotzdem wirkt es in "Genesis" recht malerisch, wie ein afrikanischer Schamane, gespielt von Sotigui Kouyate (deutsche Stimme: Christian Brückner), in seinem Kupferkessel rührt und murmelnd an die Ursuppen-Theorie erinnert.

"Genesis" ist eben keine wissenschaftlich korrekte Dokumentation über die Entstehung des organischen Lebens auf der Erde, sondern eine allegorisch erzählte Geschichte. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse transportiert der Film nicht, dafür um so mehr spektakuläre Bilder - und mitunter etwas gewagte Metaphern.

"Die junge Erde ist so heiß wie eine soeben aus dem Backofen genommene Speise", raunt der Erzähler zum Beispiel. In seinem dampfenden Kessel verrührt er Mythen, Religionen, naturwissenschaftliche Erkenntnisse, Poesie und Philosophie, bis eine appetitliche Mischung entsteht, die für jeden Geschmack etwas enthält. Der "Genesis"-Erzähler schüttelt nicht nur weise Sätze über die Entstehung der Welt aus dem Ärmel, sondern auch das passende Symbol dazu: ein Streichholz.

Eine Flamme blitzt auf, ein Rauchring schwebt in der Luft, und mit einer eleganten Überblendung sind wir bei einer schwerelos schwebenden Qualle. Die Botschaft: Das Leben wurde aus Feuer und Wasser geboren.

Ganz falsch liegt "Genesis" mit der Streichholz-Symbolik womöglich nicht. Die ersten Eiweißmoleküle könnten durch ein vulkanisches Gas entstanden sein, wie amerikanische Forscher jüngst berichteten: Luke Leman vom Scripps Research Institute in La Jolla und seine Kollegen beobachteten in Laborversuchen, wie sich mehrere Proteinbausteine zu kurzen Ketten zusammenlagerten, wenn das Gas Carbonylsulfid (COS) im Spiel war (1).

Leman und seine Kollegen zeigten, dass sich in Wasser gelöste Aminosäuren unter Einfluss des COS-Gases schon bei normaler Raumtemperatur zusammenlagern. Die Reaktion war noch erfolgreicher, wenn Metall-Ionen wie Eisen, Blei oder Cadmium in die Mischung gegeben wurden, berichten die Forscher. Sie vermuten, die Reaktion habe sich hauptsächlich auf Felsen in der Nähe von Vulkanen abgespielt, wo die Konzentration des Gases am größten war.

Sollten die Wissenschaftler Recht haben, wäre ein fundamentales Rätsel über die Entstehung des organischen Lebens auf der Erde gelöst. Denn in allen Organismen verbinden sich heute Aminosäuren mit Hilfe von Enzymen zu größeren Molekülen; in der Frühzeit müssen die ersten Eiweißmoleküle und damit die Voraussetzung für Leben jedoch ohne Hilfe der Enzyme entstanden sein - wie genau, ist unklar.

In "Genesis" geht das mit den weiteren Schritten zu höheren Lebewesen recht fix, nachdem die Ursuppe fertig gekocht ist. Aus der trüben Brühe kriechen die ersten Tiere, aus denen bald so komplizierte Kreaturen entstehen wie der Seeteufel, der mit einer Art Angelschnur seine Opfer anlockt.

Insgesamt sechs Jahre haben Nuridsany und Pérennou am "Genesis"-Projekt gearbeitet. Die Dreharbeiten rund um den Erdball dauerten fast drei Jahre. Allein für die seltenen Bilder einer Seepferdchen-Paarung benötigten die Filmemacher zwei Monate, weil sie das Liebesspiel der bizarren Tierchen nicht im Aquarium, sondern in freier Wildbahn filmten.

Die gewaltigen Landschafts-Impressionen im Film entstanden an Originalschauplätzen in Frankreich, Island, Madagaskar und auf den Galapagos-Inseln. Auf digitale Bilder verzichteten die Franzosen ganz.

Dennoch kommt nicht die reine Naturromantik auf. Claude Nuridsany und Marie Perénnou dokumentieren auch die - wenig romantische - Tragweite von Darwins Prinzip ("Survival Of The Fittest") und lassen ihren Erzähler pragmatisch feststellen: "Wir, die Lebenden, überleben, weil wir anderes Leben zerstören. Leben ist kannibalisch. Leben verschlingt Leben."

Ziemlich drastisch demonstriert das dann eine eierfressende südafrikanische Schlange, die ihr Maul so weit aufreißt, dass sie das Ei komplett verschluckt und die Schale mit ihren Ringmuskeln knackt.

Ohnehin sind Tiere immer wieder die Hauptdarsteller von "Genesis". Sie werden von Nuridsany und Pérennou als lebende Metaphern eingesetzt. Chamäleon, Schlammspringer und Riesenechse versinnbildlichen, wie sich auf der Erde aus Feuer und Wasser Leben entwickelt hat und sich den unterschiedlichsten Bedingungen anpassen konnte. Die Tiere stehen für bestimmte Epochen der Evolution und illustrieren die "Spielregeln des Lebens", die der Schamane dem Zuschauer erklärt. Dem Erzähler zufolge geht es darum, den ewigen Kreislauf von Geburt, Fortpflanzung und Tod mitzuspielen und darüber nicht zu verzweifeln.

"Genesis" ist letztlich ein Märchenfilm mit einer moralischen Botschaft: Die Liebe ist das Leitmotiv und der Motor des Lebens, ob man jetzt ein Schabrackentapir, ein Goliathfrosch oder ein Mensch ist.

(1) Science, Bd. 306, S. 283, 2004

© SZ vom 14.10.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: