Im Kino:Eine kleine Schlachtmusik

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Romuald Karmakars großartiger Film "Die Nacht singt ihre Lieder" nach dem Theaterstück von Jon Fosse.

Von Christopher Schmidt

Blendend weiß ist zu Beginn die Leinwand, auf der sich blutrot die Namen des Vorspanns durchdrücken. Dann zerfällt das Weiß in Licht und Schatten, aus der Fläche wird Raum, bauscht sich als Vorhang vor einem geöffneten Fenster, dem Fenster, zu dem der Film am Schluss wieder zurückkehren wird. Dahinter wird die Gestalt einer jungen Frau erkennbar. Sie steht auf dem Balkon, reglos, eine Ertrinkende, die zu einer Luftblase getaucht ist und Atem schöpft, aber auch wie eine Schauspielerin vor ihrem Auftritt, die sich sammelt, bevor der Vorhang aufgeht. Gleich wird sie ihre große Szene haben, Arie und Litanei. Denn das Gewebe der wehenden Stoffbahnen ist auch das feine Gitter eines goldenen Käfigs, eines Ibsen'schen Puppenheims.

"Ich halte das nicht mehr aus"

Romuald Karmakars "Die Nacht singt ihre Lieder" beginnt wie ein Ausbrecherfilm. Die Schauspielerin Anne Ratte-Polle in ihrem, das Drillichzeug von Häftlingen andeutenden Jeanshemd taucht durch den Vorhang und versucht einen Befreiungsschlag, mit dem Satz "Ich halte das nicht mehr aus", gerichtet an Frank Giering, der lethargisch auf dem Sofa liegt und sich hinter einem Buch verschanzt, dem Schutzschild, an dem ihr rhetorisches Trommelfeuer abprasselt.

Der namenlose Er: zieht sich immer mehr in sich selbst zurück und versucht sie mit sich hinabzuziehen in den schwarzen Sog der Depression. Die namenlose Sie: strampelt dagegen an, immer panischer, richtungsloser, und das Baby, das nebenan im Wagen immerzu schläft, als habe es gar nicht auf die Welt kommen wollen, hat die Situation nur noch auswegloser gemacht. Aber ist es auch sein Kind? Seine Eltern, die einen Blitzbesuch abstatten und nach ein paar klammen Minuten auf der Sofakante überstürzt wieder aufbrechen, zweifeln daran. Der Besuch ist eine Zäsur, ein Spalt, der sich geöffnet hat und in den SIE ihren Fuß klemmen wird, bevor die Tür ins Freie wieder zuschlägt.

Heute wird es anders sein als gestern und vorgestern. Heute wird die junge Frau ausgehen, sich die Lippen schminken, das Büßerhemd gegen etwas tief Ausgeschnittenes vertauschen und sich ("Die Windeln sind in der Tüte") kopfüber in die Nacht stürzen. Als sie wiederkommt, spät in der Nacht, steht ein anderer Mann wie eine überirdische Erscheinung im Zimmer, einer, der schon den Möbelwagen gechartert hat, um sie da rauszuholen und hinein in den nächsten Schmelzofen symbiotischer Liebe.

Immer wieder gibt es in den Stücken des Jon Fosse diesen Anderen, der plötzlich aus dem Nichts auftaucht, Liebhaber der Frau, vor allem aber ein Leichenbeschauer, der einer Beziehung den Totenschein ausstellt. Denn immer ist bei Fosse die Liebe vorbei, wenn das Stück beginnt. Weil aber seine Paare zu feige sind, um Schluss zu machen, fangen sie immer wieder neu an. Die Männer versuchen die Frauen zu isolieren, sie in einsame Häuser auf dem Land zu schleppen oder in eine Höhle der Großstadt. Sie wollen sie ganz für sich haben in ihrem Bau.

Das wichtigste Wort: Pause

Die Abgestorbenheit, der hospitalistische Affektentzug zeigt sich vor allem in der Sprache. Fosses klaustrophilen Dialoge, deren wichtigstes Wort "Pause" ist, sind Variationen um ein Thema wie eben den Satz "Ich halte das nicht mehr aus" und meinen immer etwas ganz anderes, als sie sagen. Deshalb sind diese verregneten Dialoge so bühnenwirksam, ist der minimalistische Cool Fosses die derzeit akzeptierte Darreichungsform großer Gefühle auf dem Theater. In den bisher rund vier Dutzend Fosse-Inszenierungen an deutschsprachigen Bühnen wird das zumeist zeremoniell zelebriert durch einen zeichenhaften Anti-Naturalismus.

Im Gegensatz dazu ergänzt Karmakar die Konkretionen, die bei Fosse getilgt sind, was seine Texte manchmal wirken lässt, als hätte sie ein Trappistenmönch redigiert. Karmakar verlegt den Schauplatz. Der Ort ist nun Berlin. Hinter bröckelnden Fassaden die stylish möblierten Altbauwohnungen derjenigen, die vor ein paar Jahren in den Osten zogen und nun im schicken Mitte von den Rändern stürzen. Der Film spielt mit dem Kontrast von Innen und Außen, zeigt die Wohnung des Paares als dunkle Höhle und ist so auch eine Studie über das Milieu der neuen Bürgerlichkeit. Das ist nicht frei von galligem Witz, etwa wenn ein Selbstmordkandidat, der sich im Regen aus dem Fenster stürzt, nicht vergisst, einen Regenmantel überzuziehen.

Realistische Details reichern den spröden Text an: Die Eltern kommen aus Ravensburg, wie man am Autokennzeichen ihres Jaguars erkennt, und die Absage, die ER bekommt, der ein Manuskript bei einem Verlag eingesandt hat, ist erkennbar von Suhrkamp. Dieser Brief gibt ihr ein Druckmittel in die Hand, um ihren Ausflug zu rechtfertigen. Genauso benutzt er das schreiende Baby, um bei ihr Schuldgefühle zu wecken. Einmal spielt Frank Giering versonnen mit dem Schnuller des Milchfläschchens wie mit einer weiblichen Brust. Diese Detailgenauigkeit ist ein Verdienst des Films, der sich eben nicht an die folkloristisch dankbaren sozialen Ränder begibt, sondern das trostlose Grauen der gesellschaftlichen Mitte beleuchtet.

Trotz dieser Realismen war es vor allem die Künstlichkeit der Sprache, welche manche Kritiker bei der Berlinale enervierte. Sie kanzelten den Film als quälendes Folterkammerspiel ab, "langweilig" bis "unfreiwillig komisch", ja "unfilmisch" und "theaterhaft". Der Dialog eines Films "sollte besser nicht Poesie sein", hat einst Erwin Panofsky geschrieben, und das mit dem Prinzip des kombinierten Ausdrucks begründet. Der empirische Beweis für dieses Prinzip sei, dass immer wenn im Film ein monologisches oder dialogisches Element bestimmend ist, eine Großaufnahme erscheint. Die Großaufnahme macht das Gesicht des Darstellers zum Schauplatz, während im Theater die poetische Sprache die Distanz kompensieren muss.

Karmakars Film wirkt wie die Anwendung dieses Satzes, und beweist allein dadurch, wie "filmisch" er ist. Immer wieder verharrt Fred Schulers Kamera, welche die Wohnung aus allen Perspektiven erforscht, gleichsam eine Endoskopie vornimmt, auf den Gesichtern der Protagonisten und "misst" jede Regung. Dass und wie Karmakar seine beiden grandiosen Hauptdarsteller an einen Punkt von Figurenentwicklung geführt hat, der nur selten im "diskontinuierlichen" Medium Film möglich ist.

Die Nacht singt ihre Lieder" erzählt eine deprimierende Geschichte, aber es ist alles andere als ein deprimierender Film. Deprimierend ist jene Borniertheit, die sich dahin gebracht hat, sich durch Stille und Konzentration provoziert zu fühlen und einen großen Film nicht als solchen zu erkennen.

DIE NACHT SINGT IHRE LIEDER, D 2003 - Regie: Romuald Karmakar. Buch: R. Karmakar, Martin Rosefeldt, nach dem Stück von Jon Fosse. Kamera: Fred Schuler. Schnitt: Patricia Rommel. Szenenbild: Heidi Lüdi. Musik: Captain Comatose u.a. Mit: Frank Giering, Anne Ratte-Polle, Manfred Zapatka, Marthe Keller, Sebastian Schipper. Prokino, 95 Minuten.

© SZ vom 18.2.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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