Im Gespräch: Konrad Boehmer:"Ein lächerlicher Clown"

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SZ: Wieso spiegelt sich in der heutigen Popkultur nicht das Chaos der Wirklichkeit?

Boehmer: Muss es das? Kunst tobt sich gerne aus, wenn die Wirtschaft boomt. Denken Sie an die furiosen 60er Jahre, an diesen Mix aus gesellschaftlicher Repression und wirtschaftlichem Boom. Wir hatten alle Freiheiten, auf den Putz zu hauen - und wir haben noch gut verdient dabei. Nur, ich sprach eben davon, dass es kein Goldenes Zeitalter gibt. Die 60er waren auch keins, auch hier: Eisen und Blech.

SZ: Vor allem . . .

Boehmer: Vor allem Blech. Ja. Das Biedermeier der Gegenwart ist dagegen eine rührende, trostsuchende Geschichte...

SZ: . . . da sind wir wieder bei Gott, oder?

Boehmer: Beim Gottersatz einer Kulturindustrie, die psychische Bedürfnisse befriedigt. Indem sie Betten mit Versatzstücken der zerfallenden Hochkultur aufplustert. Marx hat auch das vorhergesagt. Ich finde diese Tendenzen künstlerisch uninteressant, aber nicht dramatisch. Über ihre Trostfunktionen hinaus sind sie historisch übrigens auch logisch.

SZ: Warum?

Boehmer: Weil das Innovationspotential der Kunst zum Stillstand gekommen ist.

SZ: Der Kunst allgemein?

Boehmer: Ja, vor allem das technische Innovationspotential der Musik.

SZ: Muss denn immer alles innovativ sein?

Boehmer: Nein. Eben. Muss es nicht. Innovationen um der Innovationen willen sind Rennautos ohne Bremsen. Da folgt dann, wie man weiß, ein recht totaler Stillstand.

SZ: Woraus resultiert der Stillstand?

Boehmer: In der Musik aus einem System, das sich so lange mit ästhetischen und pseudowissenschaftlichen Versprechungen überladen hat, bis es zusammengekracht ist.

SZ: Eine Implosion?

Boehmer: Ja. In der Ernsten Musik hat dies zu einer hanebüchenden Rationalisierung geführt und in der Unterhaltungsmusik zum reinen Hedonismus. Die eine zehrt von der Mathematik, die andere von der Psychologie. Beide Formen haben nur noch für den Apparat produziert, nicht mehr für den Menschen. Und sie tun es heute noch.

SZ: Erklären Sie das?

Boehmer: Unterhaltungskünstler produzieren heute für einen Markt, der alle 60 Sekunden nach einer Innovation schreit. Die produzieren nur noch für den Supermarkt. Läuft das Produkt nicht sofort, fliegt es aus dem Regal. Ähnlich wie inzwischen auch im Literaturbetrieb. Die Folgen sind verheerend, weil die Unterhaltungsmusik so ihre Bindungs- und Trostfunktion verliert: Denken Sie an Bob Dylan, an Leonard Cohen, die Beatles, Pink Floyd, wie lange Hörer dieser Musik jeweils Zeit hatten, über die Krisen solcher Musiker hinweg, eine Bindung gedeihen zu lassen. Wie bei Bach, Schubert oder Mahler.

SZ: Und die Ernste Musik . . .

Boehmer: ... erging sich in Publikumsverachtung. In meinen Kreisen war die Religion ja nicht Gott, unsere Religion hieß: Theodor Wiesengrund Adorno!

SZ: Beschreiben Sie Ihre Kreise?

Boehmer: Das waren eher Fußangeln als Kreise! In den späten 50er Jahren die Komponisten der "Kölner Schule", also Stockhausen, Kagel und Gottfried Michael Koenig, B.A. Zimmermann. Auch der ewig grinsende John Cage. Und der freigiebige Sponsor WDR. Teddy Adorno hüpfte da vom einen zum andern. Unsichtbar im Hintergrund: die CIA.

SZ: Bitte? Die CIA?

Boehmer: Na klar. Mit einem adornitisch-manichäischen Weltbild: im Westen das Gute, im Osten alles Schlechte. Die "Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik" waren eine Initiative der amerikanischen Militärregierung. Der Congress of Cultural Freedom, eine CIA-Organisation, veranstaltete schon 1954 in Rom einen Kongress, um Avantgarde-Musik zu promoten.

SZ: Die CIA? Großartig.

Boehmer: Der Komponist Nicolas Nabokov war bis 1963 der Generalsekretär. Und der hochintelligente CIA-Hauptverantwortliche Michael Josselson war Spezialist für psychologische Kriegsführung.

SZ: Und Adorno?

Boehmer: Die Amerikaner hatten sich tatsächlich von Adorno einreden lassen, dass eine emanzipierte Kunst eine emanzipierte Gesellschaft zur Folge hat - und dass eine Katastrophe, wie der Nationalsozialismus eine war, so verhindert werden könne. Adorno hatte in vielem recht, aber hier nicht. Auch Zwölftonmusik hätte Hitler nicht verhindert.

SZ: Was waren Sie in dieser Gesellschaft?

Boehmer: Hm . . . jung und geil.

SZ: Und sonst noch was?

Boehmer: Ja: nicht doof. Ich hab' mich deshalb bald davongemacht. 1960 brachen in Köln die Grabenkämpfe aus. Stockhausen wollte mich als Haussklaven - und als Maulwurf gegen Zimmermann und Kagel. Kagel wollte mich als Frontsau im Kampf gegen Stockhausen. Es war alle gegen alle.

SZ: Eine Keilerei unter Zwölftönern.

Boehmer: Und zwar wie unter Bauarbeitern.

SZ: Wie hat das Publikum eigentlich angefangen, die Ernste Musik zu verachten?

Boehmer: Raten Sie mal!

SZ: Es blieb weg?

Boehmer: Schlimmer: die Intelligentesten blieben weg. Ich kenne bis heute keinen Geistesschaffenden, der sich zum Schäferstündchen 'nen Stockhausen auflegt. Kürzlich fragte mich Daniel Kehlmann, ob man sich, wie er sagte, den Scheiß von Stockhausen wirklich anhören müsse? Ich hab dem die Absolution erteilt. Helmut Lachenmann, der große Purist, der schrieb einst, die tonale Musik sei durch den Kapitalismus verdorben worden.

SZ: Das klingt heute so sonderbar.

Boehmer: Das ist sonderbar. Und das sieht das Publikum deshalb auch anders als Lachenmann. Es will nicht erzogen werden, nicht von Adorno, nicht von Lachenmann. Wer Musik auf Ratio reduziert, der verhindert nicht die Verblödung der Masse. Er verekelt den Menschen die Musik.

SZ: Wo steht sie heute, die Ernste Musik?

Boehmer: Sie setzen mir zu.

SZ: Bitte, wo steht sie?

Boehmer: Im Zentrum einer erstickenden Bürokratie. Das Ziel ist nicht mehr der Zuhörer, das Ziel ist die Erhaltung des Apparates um seiner selbst willen. Denken Sie nur an das Geschrei, wenn Kürzungen von Subventionen im Raum stehen.

SZ: Verlogen?

Boehmer: Natürlich. Ich bezahle meinen Zahnarzt doch dafür, dass er ein Loch stopft, und nicht dafür, dass er Zahnarzt ist! Im Anspruch vieler E-Musik-Komponisten, vom Staat erhalten zu werden, steckt viel vom Heiligenkult des 19. Jahrhunderts. Der Subventions-Komponist degeneriert zum Staats-Komponisten. Und er degeneriert zur alten Betschwester, die von den jungen Huren vom Markt gevögelt wird. Zum Beispiel von Andrew Lloyd Webber oder Phil Glass... Das hat man dann davon.

Lesen Sie auf Seite 3, was Konrad Boehmer von Marcel Reich-Ranicki hält.

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