Bei Konrad Boehmer um die Ecke in Amsterdam haben sie auf einem Viereck die Straße aufgerissen. Boehmer steht im Nieselregen und sagt: "Da hat Spinoza gewohnt. Die gießen den Sockel für das Denkmal. Wirklich wahr!" Das Interview ist ganz oben - in seiner Wohnung in der Jodenbreestraat. Auf der Terrasse steht ein Bäumchen. Boehmer hatte den Setzling bei einem Gastspiel in Nordkorea ausgegraben und in der Hosentasche nach Holland geschmuggelt.
Was für die einen eine Katatstrophe ist, ist für Konrad Boehmer "ein gewisses Chaos".
(Foto: Foto: Pieter Boersma)SZ: Herr Boehmer, Ihr Mentor Karlheinz Stockhausen setzte die Katastrophe voraus, um in eine glorreiche Zukunft...
Konrad Boehmer: ... nicht nur Stockhausen, auch Nietzsche und so weiter. Erst Tod, dann Verklärung.
SZ: Demnach leben wir in prächtigen Zeiten.
Boehmer: Die meinten das. Aber Goldene Zeitalter sind Unfug, wenn Sie mich fragen.
SZ: Es gab sie nicht? Müssen Sie doch wissen, als Komponist . . .
Boehmer: Manchmal sieht es nur später so aus. Es ist aber immer nur Eisen oder Blech.
SZ: Was würde Stockhausen sagen zur kapitalistischen Katastrophe?
Boehmer: Ist es denn eine?
SZ: Würde er das fragen?
Boehmer: Nein, das frage ich Sie. Nicht mal dass Stockhausen tot ist, ist eine Katastrophe.
SZ: Wenn viele Menschen Arbeit verlieren?
Boehmer: Ich wehre mich gegen die Unterstellung, dies zu verharmlosen, nur weil ich frage, ob es eine Katastrophe ist. Wir haben eine Krise. Ein gewisses Chaos.
SZ: Was ist eine Katastrophe?
Boehmer: Eine Katastrophe ist, was in ein paar Milliarden Jahren eintritt. Friedrich Engels nannte das den "notwendigen Fall der Erde in die Sonne". Ich mag diesen kosmischen Darwinismus. Rezessionen sind so alt wie der Kapitalismus. Denken Sie an die niederländische Tulpenkrise! Die Alte Börse steht keine zwei Minuten entfernt von hier. Luftbuchungen gab es schon 1637. Das sind Tendenzen.
SZ: Tendenzen? Ein solches Chaos?
Boehmer: Ich finde die Hysterie der Medien hoch abenteuerlich. Es wird übrigens auch in keinem Gewerbe so hochneurotisch auf das Chaos dieser Monate reagiert. Diese heiße Sehnsucht des Meinungsgewerbes entweder nach dem Himmelreich - oder eben nach dem Untergang.
SZ: Also, es hätte Stockhausen gefallen.
Boehmer: Wir sollten auf Stockhausen pfeifen, glauben Sie mir das! Er war manchmal genial, gleichzeitig war er wirklich der perfekte Idiot. Mit faschistoiden Gelüsten. Er bezeichnete die Attentate vom 11. September als "größtes Kunstwerk", was auch im Sinne eines radikalen Ästhetizismus - der die Toten sozusagen außen vor lässt - überhaupt gar nicht zu entschuldigen ist. Derlei Geschwafel Stockhausens steht in einer Tradition mit anderen Avantgardisten oder Futuristen. Denken Sie an Marinetti, der den Krieg als "sublimes Kunstwerk" bejubelte.
SZ: Auch Damien Hirst war angetan vom Anblick der explodierenden Hochhäuser . . .
Boehmer: Natürlich. Das sind, in diesem Stadium, tote Künstler. Die leben nur über ihre Signatur. Gut, dass Stockhausen nicht in die Politik gegangen ist.
SZ: Katastrophe bedeutet "Vernichtung", aber eben auch "Wendung".
Boehmer: Wendung hin oder her, dem Universum ist es ja egal, wenn die Erde in die Sonne fällt. Da macht es in der Unendlichkeit irgendwo plopp. Diese rasende Sinnlosigkeit, die ist für viele von uns die eigentliche Katastrophe, nicht wahr?
SZ: Glauben Sie an Gott?
Boehmer: Nein. Und Priester und Päpste sollten auch nicht immer sagen, dass sie an ihn glauben. Wenn sie sicher sind, dass es ihn gibt, so brauchen sie nicht an ihn zu glauben. Es gibt ihn oder eben nicht.
SZ: An Unsichtbares kann man halt nur glauben.
Boehmer: Liebe, Hass, Triebe, Aktienwerte, alles unsichtbar. Und doch handfest.
SZ: Also: Gott gibt es nicht?
Boehmer: Woher soll ich das wissen? Der französische Philosoph Michel Onfray sagte, wenn es Gott gibt, so hat er sich geirrt. Der trostspendende Gott ist jedenfalls ein Kindermärchen. Das Universum ist ein unendlicher Prozess. Kein Anfang. Kein Ende. Es gibt keinen Gott, der die Kugel ins Rollen brachte. Dieser stets Angeflehte ist eine Erfindung derer, die seiner als Machtmittel bedürfen. Oder eben als Trostmittel.
SZ: Die Menschen brauchen einen Sinn.
Boehmer: Aber Sinn muss man erzeugen! Der wächst doch nicht aus der Erde, und er fällt auch nicht vom Himmel. Vergessen Sie mal den sinngebenden Gott . . .
SZ: Dann ist nicht mal Clapton Gott?
Boehmer: Nein, er schafft - an großen Abenden - innerweltliche Transzendenz. Aber das schafft der allein. Ohne Gott. Sogar ohne Papst! Das schaff' ich übrigens auch.
SZ: Ich auch?
Boehmer: Sie auch.
SZ: Nie im Leben.
Boehmer: Doch, doch.
SZ: Hilft Atheismus im Chaos?
Boehmer: Das ist die falsche Frage.
SZ: Wieso das denn?
Boehmer: Der Atheismus ist keine Trostindustrie! Die Kirche ist eine. Die Kulturindustrie ist eine. Vom Atheismus haben Sie nichts zu erwarten. Er erfordert Tapferkeit. Aber ich verurteile das Beten nicht. Wir sind ja allesamt windelweich.
SZ: Ich nicht.
Boehmer: Sie auch. Und Atheismus hin oder her. Was soll ich denn der armen katholischen Bauersfrau sagen? Deinen Gott gibt es nicht? Liest die trostsuchende Frau dann Spinoza und läuft zur Aufklärung über? Ich muss ja auch als Atheist Humanist sein, also Menschenfreund, oder?
SZ: Wenn Sie sich die Gegenwart als Konzert vorstellen, Herr Boehmer, was hören Sie?
Boehmer: Ein bürgerliches Salonkonzert. Biedermeier. Blümchentapeten-Biedermeier.
SZ: Ist es nicht ulkig, dass das Chaos Biedermeier gebiert? In der Popmusik, scheue Mädchen mit weidwundem Blick . . .
Boehmer: ... auch in der Ernsten Musik gibt es eine schamlose Rückwendung. Großes Biedermeier in England. Junge Leute, die komponieren wie Richard Strauss. Der junge Robert Schumann war dabei übrigens immer ein Avantgardist. Der Held seines persönlichen Biedermeiertraums war der Komponist Friedrich Kalkbrenner. "Gedanken, wo seid ihr?" pfiff Kalkbrenner. Gute Frage, oder?
Lesen Sie auf Seite 2, warum Ernste Musik sich nicht für Schäferstündchen eignet .