Illustration:Der Wolf als Hirte

Lesezeit: 1 min

Gustave Dorés Illustrationen zu den Fabeln Jean de La Fontaines begleiten diese Literaturbeilage: Explosionen in Schwarz-Weiß.

Von Gottfried Knapp

Tierfabeln gehören zu den ältesten Formen des Erzählens überhaupt. Schon in der Mitte des dritten Jahrtausends vor Christus soll die "Fabel vom klugen Wolf und den neun dummen Wölfen" im mesopotamischen Sumer als Lehrstück in Schulen erzählt worden sein. Rund viertausend Jahre später, also im 17. und 18. Jahrhundert, hatten die Geschichten von Tieren, die so dumm sind, wie eigentlich nur Menschen sein können, nichts von ihrem entlarvenden Witz und ihrer moralisch-erzieherischen Wirkung eingebüßt. Die Autoren, die damals die uralte Gattung der Tierfabel wiederbelebten, konnten unter dem Deckmantel des Animalischen menschliche Schwächen und soziale Missstände aufdecken, also Dinge benennen, die sie ohne humoristische Brechung nie hätten veröffentlichen können.

Der Franzose Jean de La Fontaine hat die Fabeln, die er in antiken und zeitgenössischen Quellen fand, in der Sprache seiner Zeit neu erzählt und von 1668 an in zwölf Büchern herausgegeben. Da seine heiter-ironischen Deutungen der Stoffe sich in eleganten Reimen ergingen und auf moralische Schlussfolgerungen und belehrende Botschaften weitgehend verzichteten, konnten sie rasch zu Klassikern des Genres werden, die überall in der Welt nachgedruckt und mit Bildern ausgeschmückt wurden.

Aus der Fülle der Illustrationen zu La Fontaine ragen die Visionen, die Gustave Doré 1867 schuf, weit heraus. Anders als Grandville, der die satirischen Momente karikaturistisch herauspräparierte, indem er Tierköpfe auf Menschenleiber setzte, lässt Doré in seinen großformatigen Holzstichen die psychodramatischen Verwicklungen, die sich beim Aufeinanderprallen extrem gegensätzlicher tierischer Verhaltensweisen ergeben, in grellen Hell-Dunkel-Kontrasten explodieren, ja er übersteigert das symbolische Geschehen oft ins Fantastische. Der als Hirt verkleidete Wolf wird nur von einem einzigen Schaf misstrauisch beäugt, aber als er die Stimme des Hirten zu imitieren versucht, wird er entlarvt. Für die szenisch wilderen Fabeln aber erfindet Doré Bilder, die in ihrer turbodynamischen Kraft auch die bewegten Bilder des Kinos lahm und müde aussehen lassen.

In der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt ist eine in Frankreich zusammengestellte Auswahl der Fabeln von La Fontaine mit Illustrationen von Doré erschienen (270 Seiten, 49,95 Euro). Wir entnehmen diesem schönen Band die Abbildungen in dieser Literaturbeilage.

© SZ vom 28.11.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: