"Ich und die anderen":Die Inzest-Datei

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Matt Ruffs neues Werk ist ein Familienroman über einen Patienten, der an Multipler Persönlichkeitsstörung leidet.

Von Christoph Bartmann

Matt Ruffs neuer Roman, sein dritter nach "Fool on the Hill" (1991) und "G.A.S." ist der Familienroman nicht eines Neurotikers, sondern des MPS-Patienten.

MPS oder Multiple Persönlichkeitsstörung heißt der Defekt, an dem der junge Andrew Gage leidet, seit er sechsundzwanzigjährig und ohne Erinnerung an sein Vorleben aus einem kalten, schwarzen See stieg, um fortan im Hause seines Ich die Seelen von Adam, Tante Sam, Gideon, Jake und einigen anderen zu beherbergen.

"Set this House in Order. A Romance of Souls" heißt Ruffs Roman im amerikanischen Original und bringt so gleich im Titel drei zentrale Begriffe ins Spiel: Haus, Ordnung, Seele.

Im Haus, das Andrews Kopf den guten und bösen Seelen, die in ihm wohnen, eingerichtet hat, herrscht eine Art Ordnung, weil sein "Vater" oder besser eine halbwegs vernünftige Vaterseele einst mit Hilfe eines unorthodoxen Psychiaters eine Architektur für ihn erfunden hat: Ein Haus, in dem die Seelen ein und aus gehen können, mit einer Hausseelenordnung, die, einer von Ruffs schönsten Einfällen, jeder Seele ein gewisses Quantum "Körperzeit" einräumt, ehe sie sich wieder in die hinteren Gemächer zurückzuziehen hat.

Kein Mangel an Gesellschaft

Irgendwann war der Vater der Regie über die widerspenstigen Seelen müde und übergab den Job an Andrew, der jetzt beim Frühstück darauf zu achten hat, dass alle Seelen bedient werden, also der fünfjährige Jake seine Honigpops und Tante Sam Toast mit Kräutertee bekommt.

Es ist nicht leicht, an MPS zu leiden, aber über Mangel an Gesellschaft braucht man sich nie zu beklagen.

Nun ist aber die Existenz einer Krankheit dieses Namens, gelinde gesagt, umstritten. Wie zu anderen Krankheitsbildern hat auch zur MPS die Populärkultur viel beigetragen.

Hätte nicht Joanne Woodward ihre dreifache Hauptrolle in dem Film "The Three Faces of Eve" (1957), der auf einer klinischen Fallstudie beruhte, so überzeugend gespielt, wäre das seltene Phänomen einer in mehrere Charakterrollen auseinander gefallenen Identität kaum ins öffentliche Bewusstsein gelangt.

Nach Eve kam Sally Fields Bestseller "Sybil" von 1973, die angeblich wahre Geschichte einer jungen Frau, deren Ich in sechzehn Persönlichkeiten beiderlei Geschlechts zerfallen war.

Die Ursache der Störung lag, so der Befund der behandelnden Ärztin, im sexuellen Missbrauch durch die Mutter. Mit Sally Field als Sybil und Joanne Woodward diesmal als Psychiaterin Dr. Wilbur wurde daraus drei Jahre später ein erfolgreicher Fernsehfilm, durch den der Zusammenhang von MPS und sexuellem Missbrauch endgültig Allgemeingut wurde.

Gab es zuvor kaum mehr als 100 dokumentierte jährliche Fälle in den USA, so stieg die Zahl nach "Sybil" auf über 4000 pro Jahr. 1998 kam dann heraus, dass Dr. Wilbur mit Hypnose und anderen Mitteln den sechzehn Seelen in Sybils Körper ein wenig beigesprungen war.

Von Eve, Sybil und der etwas dubiosen Geschichte der MPS ist in Matt Ruffs Roman nicht die Rede. Er bestätigt ohne erkennbare Skepsis den zweifelhaften Zusammenhang zwischen Inzest und MPS, indem er zwei Figuren, Andrew und seine Leidensgenossin Penny (oder auch "Mouse") auf den Weg schickt, den Schlüssel zu ihrer Multiplizität zu lösen.

Das Dolby-Orchester im Kopf

Der Schlüssel liegt natürlich bei den Eltern, bei Andrews Stiefvater und Pennys Mutter. Von "incest survivors" hat Ruff in einem Interview gesprochen, was verdächtig nach "Holocaust survivors" klingt und den Inzest gleichsam als Holocaust der Seele zu etablieren versucht.

Dem Inzest-Überlebenden ist die Seele in tausend Scherben zerbrochen; um sie wieder zusammenzusetzen, muss er oder sie die lange Reise zu den Tätern antreten.

Das ist, in denkbar kurzer Zusammenfassung, die Handlung dieses sechshundertseitigen, überaus turbulenten und natürlich figurenreichen Romans, dem seine Nähe zu fragwürdigen psychiatrischen Spekulationen auf keiner Seite zum Problem wird.

Sieht man davon ab, so kann man an Ruffs Roman durchaus seine Freude haben. Wie schon in seinen Vorgängern dirigiert Ruff auch hier ein großes Orchester, das diesmal vorwiegend in zwei multiplen Köpfen munter aufspielt.

So wild wird durcheinander gequatscht und fabuliert, dass man meinen könnte, das MPS-Syndrom sei für Ruff nur ein Vorwand, um eine Art von erzählerischen Super-Dolby-Effekten vorzuführen.

Man muss dem Autor konzedieren, dass er seine Effekte beherrscht: Sätze, deren Sprecher sich bis zum nächsten Punkt schon längst von einer Seele in die nächste verwandelt haben, tausend der Seelenlage angepasste Tonlagen und Redeweisen, je nachdem, wer gerade Sprech- und Körperzeit hat, alles in allem eine atemberaubende Menagerie von Stimmen und Charakteren auf der Suche nach Ordnung.

"Gleichgewicht" heißt der erste Teil des Romans, "Chaos" der zweite, "Ordnung" der dritte. Alles könnte gut werden, nachdem Andrew Gage mit seiner Freundin Penny (und einem Dutzend Seelen auf dem Rücksitz) durch die halben USA von Seattle nach Michigan gereist ist, um dem bösen Geist des inzwischen verstorbenen Stiefvaters einen letzten Besuch abzustatten und sodann Ruhe zu finden.

Alles könnte gut werden, denn Matt Ruff ist ein wohlwollender, menschenfreundlicher, ja gutmütiger Erzähler, der das Grelle und Extreme liebt, doch den Zynismus offenkundig verabscheut.

Seattle, das ist die Metropole von Microsoft, das Herz des Cyberspace, der Ort, an dem in den Neunzigerjahren die Zukunft so hell leuchtete wie nirgends sonst.

Hier und nur hier kann Ruffs Roman spielen, wenn er zweierlei Formen von Virtualität einander gegenüberstellen will: die Virtualität der tausend Seelen in Andrews Kopf und die Virtualität, die mit Datenanzügen und -handschuhen in Julie Siviks "Reality Factory" und anderen Start-Ups im Seattle der mittleren Neunzigerjahre am Computer errechnet wird.

Hier, bei Julie Sivik, einer Cyber-Jungunternehmerin, wie sie im Buche steht, begegnen sich die beiden Multiplen, Andrew und Penny, zum ersten Mal, und natürlich hat Julie bei ihrer Einstellung einen Hintergedanken gehabt: wer MPS hat, müsste doch auch über besondere Fähigkeiten im Bau von virtuellen Welten verfügen.

Aber ehe die beiden Jung-Programmierer den Beweis ihrer Fertigkeiten und den der Tauglichkeit dieses Romangedankens so richtig erbringen können, sind sie und mit ihnen der Roman auch schon auf und davon, neuen Ufern entgegen.

Ein bizarres Roadmovie, eine zarte und dreieckige Liebesgeschichte zwischen Personen uneindeutigen Geschlechts, ein Zeitbild aus dem späten Slacker-Age in Seattle, eine trotz aller Drastik ziemlich rührselige und manchmal auch rührende Selbstfindungsgeschichte mit Inzest-Motiv, all das und noch viel mehr ist Matt Ruffs Roman.

Und wenn sie nicht gestorben sind, leben Andrew und Penny noch heute, haben zwar immer noch MPS, aber ihre Seelen unter Kontrolle.

MATT RUFF: Ich und die anderen. Roman. Aus dem Amerikanischen von Giovanni und Ditte Bandini. Carl Hanser Verlag, München 2004. 600 Seiten, 24, 90 Euro.

© SZ vom 13.1.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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