Ian Bostridge:Gedicht in Tönen

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Nach Schubert widmet sich der englische Tenor Ian Bostridge jetzt Brittens Liedern

Interview von Susanne Hermanski

Der englische Tenor und Historiker Ian Bostridge, 52, hat seinen eigenen Kopf. Wenn er singt, dann tut er das sichtlich mit vollem Körpereinsatz und hörbar mit Sinn und Verstand. Vor zwei Jahren gab er sein erstes Konzert mit dem Münchner Kammerorchester (MKO). Damals begeisterte er in der Pinakothek der Moderne mit Gerald Finzis Kantate "Dies Natalis" - einer gesungenen Meditation über die Kindheit. Nun kommt der Romantik- und Lyrik-Experte mit etwas sehr Erwachsenem nach München: Benjamin Brittens ätherischem Liederzyklus Nocturne.

SZ: Sie lieben Britten, und Sie sind verrückt nach Schubert - wie kommt das?

Ian Bostridge: Beide waren ganz "natürliche" Komponisten. Die Musik war ihre Sprache. Sie hatten die gleiche Herangehensweise an ein Gedicht. Sie lasen es, gewannen daraus eine musikalische Idee und setzten sie um. Denken Sie an Schuberts Gretchen am Spinnrad. Dieses klackernde Kreisen der Töne, das ist ein musikalisches Bild. Nach demselben Prinzip geht auch Britten vor. Er malt das Gedicht in Tönen.

Interessiert Sie auch aktuelle Dichtung?

Sie interessiert mich, aber nur Weniges prägt sich mir ein.

Klassische Komponisten scheinen das Feld den Popsongs zu überlassen. Wie sehen Sie die Zukunft des Kunstliedes?

Ich glaube, die Menschen genießen die Nähe zwischen Publikum und Musikern bei einem Liedvortrag. Das hat etwas sehr Intimes, wenn es wirklich mit großer Intensität vorgetragen und durchlebt wird. Aber es ist nicht modisch, nicht "in". Viele Konzertveranstalter haben sogar den Eindruck, das Lied sei der Tod.

Vom Buch zur Partitur: Ian Bostridge arbeitete zunächst als Historiker, bevor er als Sänger erfolgreich wurde. (Foto: Ben Ealovega)

Sie machen aber einen ziemlich lebendigen Eindruck.

Na ja, wenn man sich die Wigmore Hall in London ansieht - dort gab es im Sommer rund 90 ausverkaufte Liederabende in Folge - oder die Schubertiade, da ist der Zulauf gigantisch. Das kommt durch sehr lange, intensive Arbeit mit und an einem Publikum. Aufbauarbeit.

Was ist denn zusammengebrochen, das da jetzt wiederaufgebaut werden muss?

Das Rückgrat der Lieder im 19. Jahrhundert war die Hausmusik. Das haben die Leute heute nicht mehr. Diese Lieder wurden in der Familie aufgeführt, oder man sang sie sich selbst am Klavier vor. Mit den Schubert-Liedern war das möglich - mit einer gewissen bürgerlichen Bildung im Hintergrund. Mit Wolff-Liedern verhielt sich das dann anders. Die Lieder waren definitiv schon für Konzertsäle gedacht. Das schätze ich so sehr an Britten: Er hat seine Lieder in der Schubert-Tradition gesehen.

Sie haben ein 400-Seiten-Buch über Schuberts Winterreise geschrieben. Sieht nach einer ausgewachsenen Obsession aus. Wie fing das an?

Ich war zwölf, als ich die Winterreise zum ersten Mal gesungen habe. Ich hatte damals einen verrückten Musiklehrer. Später kam noch ein sehr guter Deutschlehrer dazu, der hat uns die Sprache teils über Lieder beigebracht, auch der hatte dabei durchaus obsessive Züge. Meine Begeisterung für einzelne Sänger war entfacht, als ich Dietrich Fischer-Dieskau den "Erlkönig" singen hörte. Wie er erst die Winterreise sang, war für mich unfassbar. Da war ich 14 oder 15.

Wann haben Sie die Winterreise selbst zum ersten Mal öffentlich aufgeführt?

1985, im zweiten Jahr meines Oxford-Studiums, im St. John's College. Zugehört haben vielleicht 30 Leute.

Viel mehr waren auch bei Schuberts Uraufführung nicht.

Richtig, und seine Freunde fanden erst mal grässlich, was sie hörten. Sein Freund Franz von Schober - ein schlimmer Finger, dem er wohl seine Ansteckung mit der Syphilis zu verdanken hatte - der sagte, er könne den Lindenbaum ganz gut leiden. Der Rest sei schauerlich. Dabei ist das, was Müller und Schubert in der Winterreise vermitteln, zeitlos groß.

Worin genau?

"Fremd bin ich ausgezogen, fremd kehr ich wieder ein." Dieses Gefühl der Heimatlosigkeit beschäftigt die Leute bis heute. Leider auch im negativen Sinne. Dann kommt dabei so etwas heraus wie der Brexit.

Sie meinen, wer Schubert kennt, kann das Wahlverhalten der Briten verstehen?

Nein, ich halte es für eine absolut bizarre Antwort darauf, sich vom Rest Europas abzutrennen, weil die Leute sich fremd, einsam und unsicher fühlen. Eigentlich wollte ich mit dem Buch ja auch beschreiben, wie wichtig die deutsche für die britische Kultur ist und umgekehrt.

Sie hatten eine akademische Karriere als Wissenschaftler, bevor Sie sich ganz der Musik verschrieben. Gingen Sie mit dem Buch zurück zu Ihren Wurzeln?

Zurück in die Bibliothek! Das Internet gab es ja noch nicht in der Form, als ich an der Uni war. Aber ich habe die Sache viel freier angepackt. Es schmeichelt mir aber sehr, wenn jemand sagt, das Buch sei wissenschaftlich. Schließlich hat es keine einzige Fußnote.

Sie verraten dem Leser viel. Aber was passiert, bevor die erste Note eines Konzerts erklingt?

Bevor ich auf die Bühne trete, befinde ich mich in einer Art schwarzem Vakuum. Einem Nichts. Aber das bedeutet nicht, dass man nichts von dem mit in die Interpretation nehmen würde, was einem während der Woche widerfahren ist, oder was man am selben Tag erlebt hat.

Wie radikal ändern Sie Ihre Interpretationen im Laufe der Zeit?

Bis hin zum Kontrapunkt ist alles möglich.

4. Abokonzert - "Reformation" des MKO mit Ian Bostridge , Tenor, und Clemens Schuldt , Dirigent, Do., 26. Jan., 20 Uhr, Prinzregententheater, Einführung 19.10 Uhr; Buchtipp: "Schuberts Winterreise. Lieder von Liebe und Schmerz" von Ian Bostridge, C.H. Beck-Verlag

© SZ vom 25.01.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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