Hörbuch-Kritik: Kempowskis "Der Krieg geht zu Ende":Im Bann der Wörter

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1100 Figuren, 200 Schauspieler, neun Stunden Laufzeit: Das Hörbuch "Der Krieg geht zu Ende", das auf dem Material von Walter Kempowskis Monumentalwerk "Echolot" fußt, ist auch eine Zumutung: es ist unbequem, anstrengend und manchmal auch empörend. Hiermit sprechen wir unsere wärmste Empfehlung dafür aus.

Von Gregor Schiegl

"Wir müssen einmal ausführlich werden, vielleicht zum letzten Mal in unserem Jahrhundert", sagt der Schriftsteller Walter Kempowski.

Das Hörbuch "Der Krieg geht zu Ende" ist ausführlich geworden. Die letzten fünf Monate des Zweiten Weltkriegs breitet es in neun Stunden Spielzeit aus, etwa 1100 Gestalten kommen zu Wort. Gesprochen werden sie von 200 Schauspielern. Darunter sind namhafte Größen wie Otto Sander, Rolf Boysen, Leslie Malton, Peter Fitz, Thomas Holtzmann und Corinna Kirchhoff. Das Hörbuch basiert auf dem Material aus über 5000 Familiennachlässen, das Kempowski zwölf Jahre lang für sein großes Werk, das "Echolot", zusammengetragen hat

Entstanden ist eine aufwändige Text-Collage, in der sich Tagebücher, Briefe und persönliche Berichte abwechseln. Dieser Methode bedient sich auch das Hörbuch, das die Texte kongenial als "Chronik für Stimmen" wiedergibt.

Gesichter haben diese Stimmen nicht. Wer zufällig einen Schauspieler wiedererkennt, kann im 15 Seiten starken Booklet nachschlagen, welcher Figur die Stimme zugeordnet ist. Aber die meisten Namen sagen der Nachwelt ohnehin nichts: "Fritz Müller", "Hans D.", "Renate C.", eine "Berliner Hausfrau". Das sind keine Personen der Zeitgeschichte, nicht im klassischen Sinne. Wichtige historische Personen wie der amerikanische General George S. Patton kommen selten vor.

Abwarten und Tee trinken

Eine junge Soldatenwitwe schreibt ihrem Gefallenen, zärtlich und verzweifelt, dass sie nicht mehr wisse, wohin mit all der Liebe, die sie für ihn aufgespart habe, aber doch: "Ich will tapfer sein."

Dann grüßt ernst und feierlich der Leitartikler aus der ersten Ausgabe der Aachener Nachrichten, Januar 1945: die Presse duckt sich nicht länger unter der Knute der Nazis.

Nahtlos schließt sich eine Szene aus der Reichskanzlei an: "Tee in der Nacht von drei bis fünf Uhr." Die Gespensterstunde geht dem Ende zu.

So herrscht in dem Hörbuch chronologisch geordnete Konfusion: hier Hoffnung, da Verzweiflung, manchmal auch beides, und gleich danach, gewissermaßen als Postscriptum, "liebe Grüße an Mutti".

Die Chronologie führt zusammen, was nicht zusammenpasst und doch zusammengehört: Blumen wachsen auch im Krieg, und einfache Bürger freuen sich auf Frikadellen, während ein paar Kilometer weiter Juden vergast werden. Das menschliche Leben ist - so umfassend und detailliert wie es Kempowski hier ausbreitet - ein einziger Skandal.

Weder der Autor, noch der Regisseur Walter Adler geben dem Hörer Gelegenheit, sich komfortabel einzurichten in einer demütigen Pose. Sie schubsen ihn mitten hinein in den Pulverdampf der Geschichte, mitten hinein in das babylonische Sprachengewirr zwischen forsche Backfische und feige Generäle, Fanatiker und Bürokraten, Rotarmisten und KZ-Häftlinge. Sie alle kommen zu Wort, auch die Irrenden und Verirrten.

Sie bedrängen den Hörer, flehend, wo es keine Rettung gibt, schneidig, wo die Nerven flattern. Da ist nichts sprachlich korrigiert, moralisch frisiert, appetitlich arrangiert. Auch der bisweilen aufscheinende Nazi-Jargon der Wehrmachtssoldaten und SS-Männer ist nicht nach den Erfordernissen politischer Hygiene bereinigt.

Das ist ein Wagnis, das Kempowski bereit ist einzugehen: "Wir dürfen unseren mündigen Bürgern vertrauen." Gängelung bringe sowieso nichts. Wer in die falsche Richtung gehen wolle, tue dies - egal was der Kommentator sagt. Die Hörbuchbearbeitung ist von dieser Haltung nicht abgewichen. Sie zeigt eine Wirklichkeit, ohne sie zu deuten.

Dabei ist es nicht so, dass Kempowski neutral wäre, die Auswahl und die Kombination der Texte erzeugt Spannungen und Gegensätze, oft absurd und erschütternd in ihren Brüchen. Diese virtuose Kunstfertigkeit ist es auch, die dieses Werk über ihre dokumentarische Natur erhebt und selbst zu einer literarischen Kunstform macht. Das Rohmaterial verliert aber auch solchermaßen veredelt nichts von seiner erschütternden Authentizität.

Regisseur Walter Adler hat sich für eine in den technischen Mitteln denkbar sparsame Umsetzung entschieden. Keine Musik umhüllt den nackten Text, keine Effekte locken sich auf dem kahlgeschoren Wort.

Die Sprecher treten hinter den Texten zurück, ihr Ausdruck ist gedämpft, ruhig, leise, unspektakulär. Es ist ein Drama ohne Theatralik, doch mit sublimer Dramatik.

Eine leichte Kost ist dieses Hörbuch schon aufgrund seiner Länge nicht. "Der Krieg geht zu Ende" ist ein veritables Stück Arbeit. Doch ohne das wäre dieses Hörbuch kaum mehr als eine folgenlose Zerstreuung, nur ein weiteres Stück gut gemeintes, aber wenig aufschlussreiches Infotainment vor der derzeit so beliebten Hakenkreuz-Kulisse.

Beten, um zu bannen

Es wäre zu viel des Lobes zu behaupten, dieses gigantische Projekt gäbe eine Antwort auf die Frage nach dem Warum. Wenn das so wäre, hat Kempowski in einem Interview ironisch gesagt, "dann würde die Antwort wahrscheinlich wie eine Formel drunterstehen."

Den törichten Anspruch, den Zweiten Weltkrieg zu erklären, ihn aufzuklären wie einen Kriminalfall, so dass man ihn, endlich gelöst, getrost schließen und vergessen kann, hat Kempowski nie gehabt. Das Hörbuch erinnere ihn an die buddhistische Form zu beten, "nicht, um für sich etwas zu haben, sondern um etwas zu bannen."

Man könnte das Hörbuch als Endlosband abspielen, hat der Autor laut nachgedacht, als akustische Rauchsäule, die beständig an das Fanal des Zweiten Weltkriegs erinnert. Doch Kempowski ist sich der Unmöglichkeit dieses Unterfangens bewusst: "Soundsoviel Prozent Opfer des Faschismus müssen dabei sein, soundsoviel Flüchtlinge, dadurch entsteht nichts."

Kempowski hat den Blick geweitet - auf alle. Das ist beunruhigend, das ist empörend und möglicherweise die beste Möglichkeit, ein um Begreifen ringendes Erinnern zu bewahren. "Der Krieg geht zu Ende" ist ein erschütterndes Dokument, ein eindrucksvolles Kunstwerk und ein tönendes Stück Erinnerung und Plädoyer für Menschlichkeit.

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