Herbert von Karajan:Nazi-Dirigent oder Deserteur?

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Eine abenteuerliche Geschichte: Warum der Dirigent Herbert von Karajan am Ende des Zweiten Weltkriegs in Mailand untertauchte und wie er die Nerven seiner Helfer mit Hypochondrie und hohen Ansprüchen strapazierte.

Reinhard J. Brembeck

Klaus Riehle, Jahrgang 1963, ist gelernter Islamwissenschaftler und unterrichtet sein Fach an der freien Campusuniversität Euromediterraneo in Tempio auf Sardinien. Also verwundert es wenig, dass er Anfang der 1990er Jahre mit einer italienischen Bekannten eine Islamausstellung in Mailand besuchte. Plötzlich tippte ihm jemand auf die Schulter. Seinem Italienisch nach, meinte ein älterer Herr, müsse er aus dem Schwarzwald stammen. Außerdem würde er ihn am Abend zum Essen einladen, Punkt sieben Uhr, danach würde er nicht mehr eingelassen.

Geheime Erinnerungen des Zahnarztes

Das war der Beginn einer Bekanntschaft, die Riehle auf Gebiete weit ab vom Islam führte. Denn Aga Hruska, seine neue Bekanntschaft, stammte aus einer legendären österreichischen Promizahnarztfamilie. Schon der Vater Arturo senior hatte den Zaren, Gabriele d'Annunzio und C. G. Jung behandelt, andererseits aber auch einen noch heute in Gardone Riviera zu besichtigenden Botanischen Garten angelegt.

1926 eröffnete er mit seinen drei Söhnen, darunter Aga und allesamt ebenfalls Zahnärzte, ein Studio in Mailand. Riehle schrieb darauf zusammen mit Aga dessen Autobiographie, die im Deutschen den eher raunenden Titel "Aga Hruska. Der Tragische Karneval" (Ibera Verlag, 1998) trägt, in der italienischen Ausgabe aber sehr viel deutlicher wird: "Memorie segrete del dentista dei Papi e dei re" - Geheime Erinnerungen des Zahnarztes der Päpste und der Könige.

Seine schwierigste Zeit

In diesem Buch finden sich auch vier Seiten über den Dirigenten Herbert von Karajan, der zwischen 1936 und 1961 Patient Agas war - die beiden hatten sich beim Skifahren in St. Anton kennengelernt. Aber damit nicht genug. Aga war Zeuge von Karajans Untertauchen am Ende des Zweiten Weltkriegs, ein nach wie vor dunkles und kaum untersuchtes Kapitel in der Biographie des österreichischen Dirigenten, der im nächsten Jahr seinen 100. Geburtstag hätte feiern können - dann werden auch Riehles Forschungen publiziert, wieder im Verlag Ibera.

Ursprünglich, so Riehle, wollte Aga gar nichts über Karajan in seiner Autobiographie haben, da ihm dessen im persönlichen Umgang recht schwieriger Charakter noch in den 90er Jahren heftig aufstieß. Aber Riehle blieb am Ball. Nicht zuletzt weil ihn die Karajan-Stiftung zu weiteren Forschungen zu dieser dunklen Etappe im Leben des Dirigenten ermunterte, über die sich der Maestro so gut wie gar nicht geäußert hat. Er nannte sie recht pauschal seine schwierigste Zeit.

Neben Hruska hat Riehle noch einen zweiten, ähnlich schillernden und mittlerweile ebenfalls verstorbenen Zeitzeugen aufgetan, den Mailänder Sicherheitschef und SS-Hauptsturmführer Theodor Saevecke, der als "Henker von Mailand" bekannt wurde, nach dem Krieg eine erstaunliche Karriere beim BKA machte, zentral an der Spiegel-Affäre beteiligt war und wegen seiner Kriegsverbrechen 1999 in Abwesenheit von einem italienischen Gericht zu lebenslanger Haft verurteilt wurde.

Risikofaktor Karajan

Karajan tauchte nach Aussage dieser beiden Zeugen im November 1944 ohne finanzielle Mittel in Mailand auf - Richard Osborne allerdings datiert diese Ankunft in seiner großen Karajan-Biographie erst auf Anfang '45. Mit dabei: Karajans zweite, noch heute lebende Ehefrau Anita, die von Erwählten ob ihrer Schönheit "Aphrodite" genannt werden durfte.

Sie entstammte der auf Nähgarn spezialisierten Industriellenfamilie Gütermann und verfügte trotz ihres jüdischen Urgroßvaters beste Beziehungen etwa zu Joseph Goebbels. "Ohne Anita", so Riehle, "hätte Karajan sehr große Schwierigkeiten gehabt, den Zweiten Weltkrieg unbeschadet zu überstehen." Sie sei rasend in ihn verliebt gewesen, habe sein Leben organisiert und überdies über wichtige Kontakte verfügt.

Für sein Erscheinen in Mailand führte Karajan laut Riehle zwei Gründe an. Einmal hatte er in Berlin - der Krieg ging spürbar seinem Ende entgegen - Angst vor den anrückenden Russen. Schließlich war seine NSDAP-Mitgliedschaft auf 1933 datiert. Zum Zweiten hätte er einen, bisher allerdings nicht auffindbaren Einberufungsbefehl zu der Kampfpropagandatruppe Südstern erhalten, der unter anderen auch der spätere Stern-Herausgeber Henri Nannen angehörte. Südstern sollte an der Italienfront auf alliierter Seite kämpfende Polen zum Überlaufen bewegen.

Im zweiten Teil: Karajans Versteckspiel in Italien und eine schicksalhafte Begegnung in Wien.

Karajan, der schöne junge Stardirigent, dem die Italienerinnen zu Füßen lagen, hatte in Mailand mächtige Freunde, Deutsche wie Italiener, die ihn von früheren Auftritten her kannten, unter anderem von einem Dirigat 1942 beim Maggio musicale fiorentino, dem wichtigsten italienischen Opernfestival. Da war in erster Linie General Hans Leyers, der Chef der norditalienischen RuK (Rüstungs- und Kriegsproduktion), ein "Society Man" wie Riehle sagt, der Karajan schon in dessen Aachener Zeit kennengelernt hatte.

Anstatt den Fahnenflüchtigen Karajan aber festzusetzen, versteckt er ihn im Hotel Villa d'Este am Comer See. Von dort geht es weiter zur Familie Crespi, Industrielle und Herausgeber des Corriere della Sera, allen voran die Frau des Hauses Giuseppina, die "Königin von Mailand" (Riehle), der besonders viel an Karajan liegt - was die Eifersucht ihres Mannes Aldo provoziert. Karajan und Anita ziehen darauf weiter zu den Mozzonis, dann zu Luigi Pozzi.

Alle diese Menschen nehmen in der Endphase des Krieges ein großes Risiko auf sich. Denn Karajan wird zwar auf der einen Seite als Deserteur gesucht, auf der anderen aber gilt er durchaus als "Nazi-Dirigent". Doch die Wirkung dieses jungen Dirigenten muss derart enorm gewesen sein, dass Nazis wie auch Angehörige des Bildungsbürgertums dieses Risiko anscheinend ohne großes Nachdenken auf sich genommen haben.

Das verschollenen Telegramm

Allerdings laufen alle diese Aufenthalte nach dem gleichen Muster ab. Karajan ist über die Maßen wählerisch, er ist ein Hypochonder, hat Magen-Darm-Probleme, trinkt keinen Alkohol, isst kein Salz, keinen Pfeffer. Auch sonst scheint er gewaltige Ansprüche zu stellen. Und, so erinnerte sich Hruska, er kann nicht danke sagen. Riehle formuliert so drastisch wie salopp: "Was Karajan so alles nebenbei wollte, ging den ihn beherbergenden Familien ziemlich auf den Keks."

Schließlich ziehen die Karajans in ein Mailänder Stundenhotel. Dann trifft Anita Mitte oder Ende März 45' Aga Hruska, der ganz in der Nähe in der beschlagnahmten Wohnung einer deportierten jüdischen Familie wohnt. Die Karajans ziehen zu Aga, behalten aber das Hotelzimmer - ein zweiter Schlupfwinkel scheint dem Dirigenten sicherer.

Kurz vor oder kurz nach diesem Zusammentreffen taucht erstmals Sicherheitschef Saevecke in Hruskas Praxis auf, um sich die Zähne richten zu lassen. Da viele Deutsche bei Hruska verkehren, fragt er ihn nach Karajan. Er habe ein Telegramm erhalten, in dem der Dirigent als Deserteur bezeichnet wird. Hrsuka behauptet, nichts von Karajan zu wissen. Jahrzehnte später bestätigt Saevecke die Existenz dieses verschollenen Telegramms.

Nachkriegskarriere

Doch damals sind schon zwei SS-Schergen, Walter Rauff und Paul Müller-Franken, auf der Suche nach Karajan. Das bekommt auch Südstern-Mitarbeiter Henri Nannen mit. Er beschwert sich bei Saevecke über deren Vorgehen. Saevecke, angesichts des alliierten Vorrückens wohl längst um seine Nachkriegskarriere besorgt, will Ruhe und dem Treiben von Rauff und Müller Einhalt gebieten. Doch die sind verschwunden, werden später mit jüdischem Raubgold erwischt und zum Tode verurteilt. Das Urteil allerdings wird wegen des Kriegsendes am 25. April nicht vollzogen.

Karajan kehrt da nicht gleich in den Norden zurück, zu unsicher ist die Situation. Über Venedig kommt er Anfang September nach Triest, wo er nach gut einem Jahr wieder erste Konzerte gibt. Anfang '46 dirigiert er in Wien, es folgt die schicksalhafte Begegnung mit dem Londoner Plattenproduzenten Walter Legge, das Auftrittsverbot. Der Rest ist bekannt - Karriere.

© SZ vom 28.6.2007 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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