Helen Mirren im Interview:"Mein Image ist nicht das eines Darlings"

Lesezeit: 12 min

Vom Vampgirl zur Queen: Für ihre packende Darstellung als britische Königin gewann Helen Mirren einen Oscar. Im Interview spricht sie von ihrem turbulenten Leben als Glamrock-Tussi und ihrem Konservatismus von heute.

Alexander Gorkow

Das Dorchester in London. Die "Eisenhower Suite". Helen Mirren trägt ein Kaschmirensemble. Ihr Charme ist ladylike, etwas versponnen, durchtrieben, sie lächelt dabei immer liebevoll und doch auch ein wenig ironisch. Was soll man sagen: Sie ist eine Erscheinung! Fester Händedruck. Als sie 'reinkommt, winkt sie gleich mal kichernd ab, Motto: Fragen Sie nicht nach Sonnenschein! Wieso geht sie denn so krumm? Also doch fragen...

Der unterkühlte Blick: Helen Mirrens brillante Darstellung der britischen Königin. (Foto: Foto: Reuters)

SZ: Mrs. Mirren, Sie haben Schmerzen?

Helen Mirren: Ich sage Ihnen, was passiert ist: Ich hielt es gestern Abend für eine gute Idee, zu Fuß und im Regen durch London in ein Tonstudio zu hetzen - und zwar auf High Heels. Bin ich ein törichtes Mädchen? Ja oder nein?

SZ: High Heels? Wollten Sie noch ausgehen?

Mirren: Nein! In einem Tonstudio für eine Nachsynchronisation, wozu brauche ich da High Heels? Da sieht mich doch keiner. So dumm... Sitzen Sie zu niedrig? Ihre Knie sind so weit oben!

SZ: Ich sitze viel niedriger als Sie auf Ihrem Polsterstuhl. Ob der Sessel für Ihren Rücken besser ist? Sollen wir tauschen?

Mirren: Ich würde darum bitten, wenn es Ihnen recht ist, nicht zu tauschen. Aus Ihrem Sessel komme ich bei all' den Schmerzen nicht mehr raus. Sie werden weiter zu mir aufgucken müssen. Ich nehme an, dass Sie das psychisch verkraften.

SZ: Sie, Mrs. Mirren, haben ein einmaliges Image: Alle lieben Sie! Faszinierend.

Mirren: Na, Sie wollen mir schmeicheln.

SZ: Nein, nein. Ein Blick ins Archiv beweist: Jahrzehnte internationaler Berichterstattung - und ausnahmslos Bewunderung. Seriöse Kritiker geraten erotisch total aus der Fassung...

Mirren: ...reden Sie nur weiter, das ist sehr, sehr gut für meinen Rücken.

SZ: Der Punkt ist: die hohen Erwartungen. Ist das nicht anstrengend?

Mirren: Aber nein! Ich muss keinen Erwartungen mehr entsprechen. Schauen Sie, mein Image ist nicht das eines Darlings. Ich habe es vielen Leuten, auch Journalisten, nicht leichtgemacht. Ich habe meine klaren und oft etwas unsentimentalen Standpunkte, wenn Sie verstehen...

SZ: Zum Beispiel spielen Sie nun in einem Popcorn-Movie aus der berüchtigten Schmiede des Produzenten Jerry Bruckheimer mit. Also, als Autorenkino würde ich den Film "National Treasure" nicht gerade...

Mirren: ...ist es nicht wahnsinnig komisch? Sie meinen, die Kritiker jagen mich jetzt zum Teufel, nicht wahr?

SZ: Na, es sieht fast so aus, als seien Sie sogar regelrecht drauf aus, dass das passiert. Sie lachen ja auch jetzt gerade selbst!

Mirren: Ich finde das recht komisch.

SZ: Ihren eigenen Trotz?

Mirren: Ja, ja... Ich dachte nach der "Queen", dass die Leute womöglich noch anfangen, mich zu ernst zu nehmen.

SZ: Die "Queen" ist ein unterhaltsamer Film.

Mirren: Na, gut, aber: Ein solcher Film könnte hier in England nicht mit noch mehr Bedeutung aufgeladen sein, verstehen Sie? Und ich bin nicht nur eine Charakterdarstellerin. Ich bin auch ein durchgeknalltes Mädchen, das bei Dreharbeiten bis zum Hals im Wasser steht, Sachen durch die Luft schmeißt und 'rumschreit. Insofern war so ein PopcornMovie eine feine Sache. Ständig hat es geraucht, gerauscht und geknallt. Ich hab' mich erholt. Das war wie Urlaub.

Auf Seite 2 erzählt Helen Mirren, wie sie in ihrem Film "The Queen" das Image der britischen Königin verbessert hat.

SZ: Der Film ist womöglich nicht der wichtigste der Gegenwart, oder?

Mirren: Er wird viele Menschen gut unterhalten, unterschätzen Sie das nicht! Möglich, dass mich nun die Kritiker vermöbeln, aber auch das hat dann Komik.

SZ: Enttäuschte Liebe.

Mirren: Ja, so etwas in der Art. Wie kann ich diese Kritiker trösten? Ich weiß es nicht. Ein Chabrol-Film als Nächstes, was meinen Sie? ... Und in einem Detail ist diese Bewunderung, von der Sie da sprechen, ja auch ganz amüsant.

SZ: In welchem Detail?

Mirren: Na, schauen Sie, ich bin nun eine Lady von über 60 Jahren, da mache ich mir nichts vor. Aber mein Image ist in gewisser Hinsicht immer noch relativ, wie soll ich sagen...

SZ: ...erotisch aufgeladen?

Mirren: Ja. Offenbar. Oder?

SZ: Wo liegt das Problem?

Mirren: Es befindet sich immer bei mir - und zwar hier, auf Brusthöhe. Was Sie hier erahnen können: ein Paar immer noch recht eindrucksvolle Brüste! Heute trage ich einen etwas unerotischen Kaschmirpullover. Um meinen armen Rücken zu wärmen. Nichts also, was den Sexappeal unterstreichen würde. Aber ich konnte meinen Busen nie verstecken, auch nicht unter Pullovern wie diesem. Einerseits mochte ich ihn auch immer gerne...

SZ: Andererseits?

Mirren: Andererseits: Ich habe - in der Shakespeare-Company oder bei Peter Brook - sehr, sehr viel Theater gespielt. Man wird sagen können, dass ich eine relativ ernstzunehmende Bühnenkarriere vorweisen kann, nicht wahr...

SZ: ...ein Understatement...

Mirren: ...sei es, wie es sei: Ich habe mich nicht zu beklagen. Der mir entgegengebrachte Respekt, sogar von Theaterkritikern, war überwältigend. Andererseits fand ich mich in Projektionen von Journalisten und so natürlich auch von Lesern dieser Journalisten oft als eine Art Sexvamp wieder. Und ich hatte dann immer den Eindruck, dass ich nicht das bin, was dieser oder jener Journalist in mir sieht.

SZ: Oder zu sehen glaubt.

Mirren: Natürlich. Ich lebte zum Beispiel eine Zeitlang mit einer Gruppe anderer Künstler und Schauspieler in einer Art Wohngemeinschaft. Draußen auf dem Land.

SZ: Mmh, aha...

Mirren: Nein, nein! Sie räuspern sich, da sind wir schon an dem Punkt. Das war keine Sexkommune, okay? Für Journalisten war das aber gar nicht vorstellbar. Kamen sie zu Besuch, starrten sie recht begeistert auf meinen Busen. Und sie reimten sich phantastische Geschichten zusammen, wie es bei uns so zugehe. Raten Sie, wer in diesen Geschichten die Domina in der Landkommune war!

SZ: Die schöne Mrs. Mirren.

Mirren: Perfekt.

SZ: O weh.

Mirren: Sie nun bemühen sich jetzt gerade, meinen Busen bewusst nicht anzustarren - und das, obwohl ich von ihm rede. Sie wollen sich keinem Verdacht aussetzen. Das ist reizend. Und am Ende kann und konnte ich mit erotischen Avancen und Projektionen übrigens auch immer ganz gut leben. Wir sind halt nicht nur so, wie wir uns selbst sehen.

SZ: Sondern?

Mirren: Sondern auch so, wie andere uns sehen. Ich habe das für mich akzeptiert, seitdem geht es mir gut. Irgendwann wurde mir klar, dass ich nicht nur die Helen bin, die ich im Spiegel sehe - sondern auch die Helen aus dem Bericht in der Zeitung, die mir im ersten Moment sehr fremd ist.

SZ: Was? Gilt das für alle Menschen?

Mirren: Natürlich. Für mich. Für die Agentin draußen auf dem Flur. Für Sie.

SZ: Ich bin, was andere in mir sehen? Das ist absolut nicht akzeptabel!

Mirren: Doch, doch, Sie müssen es akzeptieren! Auch aus der Sicht anderer setzen Sie sich zusammen, nicht nur aus der eigenen. Ich zum Beispiel habe gerade ein Bild von Ihnen, das womöglich nicht dem entspricht, was Sie selbst von sich haben.

SZ: Aha.

Mirren: Ja, ja.

SZ: Und was soll ich nun machen?

Mirren: Einfach akzeptieren, dass Ihre Sicht auf sich selbst nicht die einzige ist. Man nimmt sich selbst dann nicht mehr so wichtig. Das macht das Leben leichter.

SZ: Waren Sie mal in einer Analyse?

Mirren: Natürlich. Aber nur einmal. Ich habe damals überhaupt nichts von dem verstanden, was man mir anschließend sagte. Also, meine Sache war das nicht. Sie wird es auch nicht mehr werden.

SZ: Womöglich kann Ihnen inzwischen auch egal sein, was die Leute über Sie denken. Sie sind ein bisschen das, was Sie gespielt haben: eine Queen.

Mirren: Ich glaube, der Fall mit diesem Film liegt etwas anders.

SZ: Wie denn?

Mirren: Der Oscar, die Bewunderung, die uns zuteil wurde, all' dies war, glaube ich, auch ein wenig eine Wiedergutmachung an der echten Königin.

SZ: Man hat Sie stellvertretend für die Königin ausgezeichnet?

Mirren: Nein, so weit würde ich nicht gehen. Aber ich denke, dass wir, sicher ohne es zu wollen, am Image der - angeblich - kühlen und nach Dianas Tod nicht trauernden Königin gearbeitet haben. Und ich glaube, dass sehr viele Menschen, vor allem in Großbritannien, inzwischen ein wärmeres Bild von ihrer Königin haben als damals, als 1997...

SZ: Sie hat ja getrauert.

Mirren: Natürlich. Das Königshaus trauerte, aber es wollte sich nicht von Blair und den Medien eine öffentliche Trauer vorschreiben lassen. Das war richtig so.

SZ: Dem Image des Königshauses hat das damals geschadet.

Mirren: Aber ich finde diese Entscheidung, sich nicht an einer Medien-Trauer zu beteiligen, respektabel. Man trauert doch als Privatperson und nicht als öffentliche Figur, oder? Was ist privater als Trauer?

SZ: Sie sind nicht als Anhängerin des Königshauses bekannt.

Mirren: Nein, das kann man wohl sagen.

SZ: Es war lange chic, keine Anhängerin des Königshauses zu sein, oder?

Mirren: Chic? Ich weiß nicht. Aber ich bin ein Kind der sechziger und siebziger Jahre. Ich fühlte mich bis an den Rand des etwas Prätentiösen als eine aufgeklärte und politisch natürlich progressive Frau, die Glamrock hörte, die Kunst der erotischen Fotografie liebte und sich natürlich keinesfalls um das Königshaus scherte. Ich bin immer noch keine Monarchistin, nehme ich an. Aber ich bewundere die Königin außerordentlich für ihre Haltung, das muss ich sagen. Diana war die Königin der Tabloids, und sie manipulierte sie, wie sie wollte - das alles machte das Königshaus bis zum bitteren Ende nicht mit. Ich sehe darin einen Akt der Revolte. Der mag unmodern wirken. Aber: dieser Akt hat, wie soll ich sagen...

SZ: ...er hat seinen Charme.

Mirren: Exakt.

Weiter lesen Sie, wie wüst Helen Mirren die Hippie-Zeit empfand.

SZ: Sonderbar, oder? Dass eine in den sechziger Jahren Sozialisierte wie Sie heute einen konservativen Akt der Verweigerung revolutionärer findet als das Verhalten des Labour Premiers, der das Private öffentlich machte wie keiner vor ihm.

Mirren: Ach, die sechziger Jahre...

SZ: Waren die - zumal in London - nicht exakt Ihre Zeit?

Mirren: Das Hippie-Ding? Sie spielen darauf an?

SZ: Natürlich. Der Aufbruch!

Mirren: Oh, also, ich möchte gewisse Verdienste nicht kleinreden. Natürlich war auch ich links und bin es wohl immer noch. Eine Haltung wäscht man ja nicht ab mit der Morgendusche. Aber ich war nie in dem Sinne ein Kind der Sechziger - eher eines der Siebziger, nehme ich an. Da wir übers Image reden: Die Sechziger, sie haben ein verdammt gutes Image, nicht wahr?

SZ: Sie haben das anders wahrgenommen?

Mirren: Ich habe es so erlebt, dass die sehr große Masse der Menschen hier in London total verbohrt war, reaktionär, schlimm.

SZ: Und die Hippies?

Mirren: Gott, die Hippies, ich meine: Was waren wir Frauen denn für die? Sexobjekte, und zwar öffentliche Sexobjekte, sehr regressiv 'runtergestuft von Kerlen, die ständig alles befreien wollten, das Land Vietnam, das Proletariat, den Penis, die Vagina...

SZ: Und Sie haben sich nicht ausgelebt?

Mirren: Verlassen Sie sich drauf, dass ich das getan habe. Aber eher in den Siebzigern. Ich überlege gerade... schauen Sie: ich denke, es hatte auch ästhetische Gründe. Ich war in den Siebzigern eine ziemliche Glamrocktussi, ich mochte diese fummeligen Acts wie Roxy Music, ich verehrte Bryan Ferry wie eine Irre, den jungen Peter Gabriel von den frühen Genesis. Ich wollte die Revolte, aber sie musste einen artifiziellen und eher schwülstigen Rahmen haben für mich - im Sinne eines Cabarets, verstehen Sie? Die Hippies, all das war mir oft etwas zu...

SZ: ...erdverbunden?

Mirren: Womöglich, ja! Huuu, dieses Mother-Earth-Ding! Mütter mit überaus großen und schmutzigen Füßen, barfuß unterwegs in London, das Kind in einem Lumpen vor den Bauch gebunden, darüber der schwere Busen, um es in jeder Sekunde zu stillen... Nein, nein, also, verzeihen Sie. Ich war kein Sexvamp, aber ich war doch zu sehr an Erotik, Schönheit, Anmut interessiert, als dass ich es für eine gute Idee gehalten hätte, mich in dieser Hinsicht gehen zu lassen.

SZ: Recht barock, dieses Gemälde!

Mirren: Nun, ich habe es etwas überzeichnet. Und ich bezweifle nicht, dass damals viele gute Sachen erkämpft wurden - aber erst in den Siebzigern aber haben wir Frauen uns dann wirklich einige Sachen erstritten, nicht wahr? Ich war zum Beispiel immer froh, dass ich selbst entscheiden kann, ob ich Kinder zur Welt bringen möchte oder nicht.

SZ: Sie haben keine.

Mirren: So ist es. Und es hat meinem Image - von dem sprechen wir ja - nie geschadet. Das wäre früher anders gewesen.

SZ: Hat es sich nicht ergeben?

Mirren: "Nicht ergeben" ist gut... Nein, ich habe mir natürlich den Kopf zerbrochen, ob ich Kinder zur Welt bringen möchte. Und dann habe ich entschieden, dass ich das nicht will, dass es sich mit meinem Anspruch ans Leben auch überhaupt gar nicht vereinbaren lässt. Es ist besser, man macht sich vorher klar, ob man bereit ist, sehr viel für ein Kind aufzugeben, oder? Da ist kein Raum für Sentimentalitäten, wenn Sie mich fragen.

SZ: Dem reichen Westen fehlen viele Kinder, was heute wiederum Teil einer gesellschaftlichen Debatte ist...

Mirren: ...ich weiß, aber verzeihen Sie bitte, dass das Problem damals nicht so bekannt war. Und ich halte auch nichts davon, ein Kind zu gebären, um das Rentensystem zu stabilisieren, mein Lieber. Wer ein Kind will, also sehr sicher und aus tiefstem Herzen, dem wird das dann das schönste Geschenk sein. Ich habe aber bis heute den Eindruck, dass viele Frauen nicht sicher sind, ob sie Kinder wollen. Sondern dass sie glauben, sie sollten welche wollen - und jede andere Haltung sei irgendwie egoistisch. Fatal. Auch dem Kind gegenüber, oder? Es bleibt ja nicht lange klein und niedlich.

SZ: Bei Ihnen wiederum nahm die Geschichte dann eh eine unerwartete Wendung.

Mirren: Wegen Taylor?

SZ: Wegen Ihres Mannes Taylor Hackford, des Regisseurs: Er brachte zwei stramme Söhne mit in die Ehe.

Mirren: Ja, ist es nicht wunderbar? Also habe ich doch Kinder. Ich liebe die beiden Kerle. Interessanterweise war meine Mutter für diese Kinder eine Großmutter, wie sie großmütterlicher nicht hätte sein können. Dabei waren es im Grunde nicht ihre Enkel. Sie sehen, auch Patchworkfamilien sind Familien.

SZ: Mrs. Mirren, was ist das da für ein Tattoo an Ihrer Hand?

Mirren: Hm... ja, eine kleine indianische Sache. Das war die Zeit, als ich mit Peter Brook unterwegs war. Tja. Ich lebe damit.

SZ: Bereuen Sie es?

Mirren: Aber nein. Es erschwerte mir mein Leben in Hollywood. Aber gut.

SZ: Heute ist doch jeder tätowiert.

Mirren: Aber zur damaligen Zeit war man es nicht. Wenn Sie mit so was vor Jahrzehnten auf einer Party in Beverly Hills auftauchten, hielt man Sie fürs Personal!

SZ: Geht's mit dem Rücken?

Mirren: Ich sitze hier etwas krumm, nicht? Und morgen der lange Flug zurück nach Los Angeles. Oh, sagen Sie nichts, ich weiß, was Sie gerade denken: Die Lady hat Luxus-Sorgen. Sie haben recht.

SZ: Freuen Sie sich, als Wahlamerikanerin, auf den neuen Präsidenten?

Mirren: Nun, wer täte das nicht. Gut, dass Sie fragen. Vielleicht wird sich ja, da wir übers Image reden, dann auch das Image der USA hier in Europa wieder ändern. Ich empfinde das als beschämend!

SZ: Was genau?

Mirren: Die Herablassung, mit der wir Europäer, vor allem viele meiner Freunde hier in London, über die Amerikaner reden! Wir unterstellen den Amerikanern Oberflächlichkeit, richten aber seit Jahren über sie oberflächlich, und zwar ausschließlich basierend auf der Amtsführung von George W. Bush. Wie dumm. Amerika ist so viel: Es ist reaktionär und cool, es ist puritanisch und sexuell befreit, da sind die Küsten und da ist die Mitte, und da ist vor allem das, was man the decent heart nennt - eine Tradition des Anständigen, die gerade bei den einfachen Leuten tief verwurzelt ist, glauben Sie mir das!

SZ: Wow, Sie sind eine Patriotin!

Mirren: Na, wenn schon. Schauen Sie sich mal die Anti-Korruptionsgesetze in den USA an. Wären wir über die nicht in Europa froh?

SZ: Als Bush Präsident wurde, wie unkorrupt ging es bei seinem Bruder in Florida zu?

Mirren: Zugegeben. Aber das war schon sehr ersichtlich. Nahezu kindlich, oder? Ich meine: Jeder wusste es. Immerhin.

SZ: Sie meinen, das alte Europa ist ein wenig eingebildet?

Mirren: Aber ja! Egal ob Obama-Amerika, McCain-Amerika oder Hillary-Amerika: Immer dieses Geschwätz aus Europa über das schwache Niveau der Wahlkämpfe in Amerika. Also, ich sehe das Niveau der Wahlkämpfe hier in England, und ich weiß ja nichts über das Niveau der Wahlkämpfe in Deutschland...

SZ: ...danken Sie Gott...

Mirren: ...na sehen Sie: Und wir richten über die USA? Schauen wir uns die amerikanische Geschichte an, schauen wir uns die Gesetze an, schauen wir uns die vielen Rassen an, die vergleichsweise friedlich zusammenleben: Da hätten wir ein wenig Grund zur Ehrfurcht, oder? Also, nein, ich würde kaum einen Republikaner wählen, aber glauben Sie mir: the decent heart der Leute, das ist nicht abhängig vom gerade gewählten Präsidenten.

SZ: Ist es nicht toll, wie in Ihrem neuen Disney-Popcorn-Movie nun sogar der Präsident ein anständiger Kerl ist?

Mirren: Nun, es ist ja nicht der gerade real amtierende Präsident. Sondern ein netter Phantasiepräsident. Der Glaube dahinter ist wohl kaum, dass der reale Präsident ein anständiger Kerl ist. Aber dass der Präsident es in einem Kinofilm sein sollte. Ich finde das ziemlich rührend.

SZ: Nicht leicht für einen europäischen Geist, so eine eher naive Sicht, oder?

Mirren: Nein, zumal für eine Britin... Ich meine, welche Kunst beherrschen wir Briten in unerreichter Perfektion?

SZ: Hm?

Mirren: Andere aussehen zu lassen wie totale Vollidioten.

Helen Mirren wurde 1945 als Tochter russischer Einwanderer mit dem Namen Ilynea Lydia Mironoff in London geboren. Sie gilt als die britische Schauspielerin. Nach ihrer Zeit als Bühnenstar in der Royal Shakespeare Company und der Kompanie von Peter Brook glänzte sie preisgekrönt in Filmen wie "Caligula" (mit Peter O'Toole und John Gielgud) , "Excalibur", "Cal" oder "Der Koch, der Dieb, seine Frau und ihr Liebhaber". 16 Jahre lang war sie die Detektivin Tennison in der brillanten britischen TV-Krimireihe "Prime Suspect". Für ihre Darstellung der "Elizabeth II." bekam sie 2003 den Emmy - und 2006 den Oscar für die Aneignung der gegenwärtigen Königin in Stephen Frears "The Queen". In dem Disneyfilm "National Treasure" ("Das Vermächtnis des Geheimen Buches") ist sie von Donnerstag an in den deutschen Kinos zu sehen. Helen Mirren lebt mit dem Filmregisseur Taylor Hackford und dessen Söhnen in Los Angeles und London.

© SZaW vom 19./20.1.2008/kur - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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