Hamburger Schauspielhaus:Don Chaos

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Nach fünf Stunden Schiller gehen wir noch lange nicht nach Hause: Laurent Chétouane folgt seiner Liebe zur Geometrie und inszeniert "Don Karlos" im Hamburger Schauspielhaus.

CHRISTOPHER SCHMIDT

Die Stücke heißen jetzt nicht mehr ¸¸Don Karlos", ¸¸Romeo und Julia" und ¸¸Der Menschenfeind", sondern: ¸¸Edgar Selge ist der Menschenfeind", ¸¸Robert Stadlober in Romeo und Julia" und ¸¸August Diehl spielt Don Karlos". Für die Restlaufzeit seiner Intendanz setzt Tom Stromberg aufs Starsystem. Zugkräftige Namen sollen die Hamburger ins Schauspielhaus zurücklocken, die das schwache Ensemble nicht halten konnte. Die Mannschaft ist nur noch dazu da, den Stars die Bälle vorzulegen.

Wem nützt die Liebe in gedanken? August Diehl in der Hamburger Karlos-Inszenierung. (Foto: Foto: Schauspielhaus Hamburg)

Im Fußball ist es ja eine geläufige Redewendung, dass man sich ¸¸versteckt", anstatt dorthin zu gehen, ¸¸wo es weh tut". So unattraktiv Defensivfußball sein mag, oft genug ist er erfolgreich und sogar stilbildend. Emphatischen Minimalismus gibt es auch auf dem Theater. Spielen heißt hier, Fehler zu vermeiden. Doch während man sich früher eher hinter dem Text versteckte, versteckt man sich heute meist vor dem Text selbst. In Hamburg waren gerade innerhalb von acht Tagen beide Spielarten des Defensivtheaters zu sehen. Vor einer Woche hatte Michael Thalheimer sich am Thalia Theater vor Wedekinds ¸¸Lulu" versteckt, jetzt versteckte Laurent Chétouane sich hinter Schillers ¸¸Don Karlos". Bei Thalheimer lag die Fehlervermeidung bereits in der Kürze der Aufführung: Jeder gestrichene Satz ist schließlich ein Satz, der nicht daneben, jede gesparte Minute eine Minute, in der nichts in die Hose gehen kann. Ganz anders Chétouane, der sich für ¸¸Don Karlos" ganze fünf Stunden Zeit nimmt.

Auch er lässt wie Thalheimer das Stück auf der leeren Bühne spielen. Der Unterschied: Chétouane ist ein Formalist, und darum ist bei ihm die leere Bühne nicht einfach eine leere Bühne, sondern der akribische Nachbau einer leeren Bühne. Im Hintergrund mehrere Klappsitzreihen, als wäre der Zuschauerraum über eine Achse gespiegelt, davor das helle, um ein paar Grade aus der Symmetrie verschobene quadratische Spielfeld. Zu Beginn verteilen sich die sechs Schauspieler des Abends auf die Stuhlreihen. Von dort treten sie auf wie Saalkandidaten aus dem Publikum. Zum Beweis: Alles ist nur ein Spiel. Auch dass nur historische Versatzstücke der im übrigen neutralen Kostüme emblematisch die jeweilige Rolle andeuten, soll zeigen: Darsteller und Dargestelltes sind nicht identisch.

Keiner trägt Schuhe; man begegnet sich barfuß oder strümpfig wie spontane Freiwillige auf der Ringer-Matte. Dadurch bewegen sich alle geräuschlos. Wenn sie sich bewegen. Denn meist stehen sie da wie einbetoniert, und wenn sie ihre Position verändern, gleiten sie auf magnetischen Kufen, um sofort wieder zu verharren wie nach einem strategischen Manöver. Hier werden keine Gänge gemacht, sondern Züge in einer Schachpartie. Wie beim Schach geht jedem Zug eine Phase des Lauerns und der Antizipation voraus. Und wie wiederum bei der elektrischen Eisenbahn kündigt sich jeder Wechsel vom Stand in die Vorwärtsbewegung durch ein brummendes Vibrieren an, als würde die Figur erst einmal unter Strom gesetzt. Es ist ein Abend der zermürbenden Grundlinienduelle, wie man sie aus dem Tennis und dem Theater der siebziger Jahre kennt.

Eher unwahrscheinlich, dass Chétouane sich für Fußball interessiert wie etwa Sebastian Nübling, der vor kurzem den ¸¸Don Karlos" als rapides Kick-and-Rush-Theater in München inszeniert hat. Chétouane liegen mehr die autistischen, leicht zwanghaften Strategie-Spiele: Schach und Karambolage. Bei ihm ist jede Aktion so abgesichert, als wäre sie notariell beglaubigt. Ein Kontrollfreak. Zur Erklärung wird dabei gern auf das Ingenieurstudium verwiesen, das der junge französische Regisseur hinter sich gebracht hat, bevor er sich für das Theater entschied. Mitgenommen hat er die Liebe zur Geometrie und viel Verständnis für konstruktivistische Gebilde. Dieses Interesse mag ihn zum ¸¸Don Karlos" geführt haben, im Gesamtwerk so etwas wie eine Großbaustelle, an der Schiller vier Jahre zu tun hatte. Das wahre Genie ist ja auch in Krisen unvermindert produktiv. Weil sich im Lauf der vier Jahre sein Schreibinteresse verschob, er das bereits Fertiggestellte jedoch fortlaufend veröffentlichte, konnte Schiller nicht schon Entstandenes abreißen und größer planen, sondern musste auf kleinem Fundament in die Höhe stapeln. Was zuerst als Gartenlaube eines Liebesdramas angelegt war, wurde zum Eigenheim eines Familiendramas, schließlich zum Wolkenkratzer eines Freiheitsdramas. Schiller baute schreibend unverdrossen nach oben, und das erklärt den schwindelerregenden Konstruktivismus in der spindelförmigen Struktur des Stücks, das seine Motive immer wieder aufnimmt, abwandelt und erweitert. Im Ergebnis ist der ¸¸Don Karlos" das einzigartige Dokument des Übergangs vom Sturm und Drang zur Klassik und zeigt Schillers Werdegang vom Räuber zum Titularrat, vom Staatsfeind zum Staatsdiener.

Gerüchten zufolge wollte der Bühnenstrukturalist Chétouane die 5375 Verse des Dramas ursprünglich ohne Striche spielen, als Theater ohne Sperrstunde. Aber auch so reicht der Atem nicht für den ganzen Abend; nach zwei Stunden fällt die Tanknadel zitternd in den Reservebereich. Zuerst löst jeder Szenenwechsel eine krampflösende Hüstel- und Räuspersolidarität im Publikum aus, später lichten sich die Reihen. Chétouane inszeniert das Stück in drei Teilen mit zwei Pausen, erzählt drei Mal die gleiche Geschichte aus verschiedenen Perspektiven und deckt dadurch die Tiefenstruktur des Dramas auf, das erst ein Karlos-Drama, dann ein Posa-Drama, zuletzt ein Philipp-Drama ist. Erst die drei Blickwinkel zusammen erschließen den komplexen ideellen Gehalt: dass Politisches und Privates sich bedingen und ausschließen zugleich, weil Liebe nur unter freien und gleichen Menschen zur Passion werden kann. Doch Freiheit und Gleichheit sind in König Philipps Spanien des 16. Jahrhunderts so fern wie in Schillers Deutschland des 18. Jahrhunderts.

Aber nur im ersten Teil halten die Darsteller als vibrierende Klangkörper die dialogisch-dialektische Spannung: August Diehl, dessen Nervenbündel Karlos immer aussieht wie ein Kind, das gerade einem Gespenst begegnet ist; die leise zerbrechende Elisabeth der Ursula Doll; die sich in ihren eigenen intriganten Spinnfäden verfangende Eboli Myriam Schröders. Die Konzentration und maximale Beglaubigung dieses ganz auf die Sprache gestellten Spiels erreicht später nur noch Devid Striesow, der das Pathos seines Posa schlierenfrei trägt, während Vater Hans Diehl ein Eisheiliger bleibt bis zuletzt. Chétouane entwickelt das Stück aus Eins-zu-Eins-Begegnungen, als Abfolge statuarischer rhetorischer Duelle, als wären die Schauspieler Gelähmte, denen die Sprache zur haptischen Prothese wird. Mehr und mehr erstarrt die strenge Form zur leeren, deklamatorischen Formel; mit der großen Gewürzmühle falscher Emotion aromatisiert, tragen die Akteure den Text vor sich her wie ein Licht, das ihnen nicht aufgegangen ist. Die kalligraphische Regie-Handschrift wird zum Faksimile-Stempel, das Stück nur noch beurkundet statt durchpulst.

Chétouane hat mit seinem sozusagen halbszenischen Theater eine Lücke besetzt, die durch den Tod von Heiner Müller und Einar Schleef entstanden ist: Theater als reine Sprechakttheorie. Demnächst wird er an den Münchner Kammerspielen Lothar Trolles ¸¸Hermes in der Stadt" inszenieren, garantiert millimetergenau und mit Zirkel und Geodreieck statt mit Phantasie.

© Quelle: Süddeutsche Zeitung Nr.56, Montag, den 08. März 2004 , Seite 13 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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