Günter Grass´ Versuch einer Rechtfertigung:"Das doppelte S als Kainsmal"

Lesezeit: 2 min

Günter Grass beklagt die "anhaltende Pressekampagne" seit seinen Einlassungen zur eigenen SS_Vergangenheit. In einem Brief wirbt er dafür, seine späteren Arbeiten "als Gegengewicht" zu zählen. Die Ehrendoktorwürde einer israelischen Universität bleibt ihm dennoch versagt.

Lothar Müller

Ende letzter Woche haben die israelische Zeitung Haaretz, die New York Times, die Frankfurter Rundschau und die Schweizer Wochenschrift Tacheles einen Brief dokumentiert, den Günter Grass an Leser in Israel geschrieben hat. Grass erläutert darin, Passagen in seinem Buch "Beim Häuten der Zwiebel" zusammenfassend, noch einmal die Umstände seiner Mitgliedschaft als 17-Jähriger in der Waffen-SS, beklagt die "anhaltende Pressekampagne", der er seit dem Eingeständnis dieser Episode ausgesetzt sei und gibt seinem Schreiben einen doppelten Schluss: zum einen sei ihm "das doppelte S als Kainsmal für meine restlichen Jahre gewiss"; zum anderen möge, "was ich als Schriftsteller und Künstler sowie als engagierter Bürger meines Landes geleistet habe, als Gegengewicht wahrgenommen werden".

Bitte um Verständnis "für unsere Entscheidung, die Verleihung der Ehrendoktorwürde aufzuschieben." (Foto: Foto: ddp)

Grass" Brief hat einen individuellen Adressaten: den ehemaligen israelischen Botschafter Yitzchak Mayer, der zum Beratergremium der privaten Hochschule "Netanya Academic College" gehört. Mit deren Vizepräsident, David Altman, war Mayer im Mai 2006 zu Günter Grass nach Behlendorf gereist, um die Verleihungsmodalitäten der Ehrendoktorwürde zu erörtern, die das Netanya College dem deutschen Autor angetragen hatte.

Nicht bei dieser Gelegenheit, sondern erst durch die Publikation von Grass" Buch "Beim Häuten der Zwiebel" erfuhren seine israelischen Leser und Gesprächspartner von der SS-Episode. Sie waren bestürzt und ersuchten Grass um eine persönliche Stellungnahme. Daraufhin verfasste Grass den Brief, der nun zusammen mit Antwortschreiben von Yitzchak Mayer, David Altman und Zvi Arad, dem Präsidenten des Netanya College, publiziert wurde.

Vor allem Yitzchak Mayer, Kind einer Familie von Holocaust-Opfern, macht aus seiner Enttäuschung kein Hehl: "Ich sah mich außer Stande, die Gründe für Ihr langes Schweigen zu erkennen, ausgerechnet in einer Sache, für deren Offenlegung Sie Ihr Leben lang gestritten haben. Ich gebe zu, ich habe diese Nachricht als persönlichen Affront empfunden." Insgesamt aber kommt Mayer wie die beiden anderen Briefautoren zu einem sehr abwägenden Urteil - bei allen drei israelischen Lesern hält das Wohlwollen gegenüber dem Autor der Enttäuschung die Waage. Es ist, wie in Deutschland, eine doppelte Enttäuschung, sie bezieht sich mindestens so sehr auf das Verschweigen wie auf das Verschwiegene. So schreibt der Präsident des Netanya College: "Heute, nach der Offenbarung Ihrer Vergangenheit, respektiere ich Ihre Persönlichkeit als Künstler, Schreiber und Denker weiterhin - trotz des Schattens, den Dienst in der Waffen-SS für so viele Jahre verschwiegen zu haben." Und seiner Bitte um Verständnis "für unsere Entscheidung, die Verleihung der Ehrendoktorwürde aufzuschieben", fügt der Präsident hinzu: "Vielleicht werden wir in einiger Zeit die Angelegenheit in neuem Licht sehen."

In welchem Licht Günter Grass im Mai 2006 die Angelegenheit sah, lässt sich an dem Briefwechsel und seiner Vorgeschichte ablesen. Er muss geglaubt haben, er könne die Waffen-SS-Episode im Gespräch mit seinen israelischen Lesern unerwähnt lassen, ohne die Ehrendoktorwürde, über die man sprach, zu gefährden. So groß war das Vertrauen des Schriftstellers in die Macht seiner Worte, in die Kraft seines Buches, den verschwiegenen Makel im Erzählen zu bannen.

© Quelle: Süddeutsche Zeitung Nr.261, Montag, den 13. November 2006 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: