Grimme-Preis 2007:Brustwarzenpiercing-Pantomime

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Bisher war der Grimme-Preis in der Medienbranche gleichbedeutend mit einem Ritterschlag. In diesem Jahr setzt man auf hyperaktive Unterhaltung und ehrt "Extreme Activity" mit Jürgen von der Lippe.

Jana Hensel

Nun ist es öffentlich: Zum ersten Mal in der Geschichte des Adolf-Grimme-Preises wurde auch ein Preis in der Kategorie "Unterhaltung" vergeben. Herausgekommen ist dabei gleich zu Beginn ein großer Murks. Außer der Vorabendserie Türkisch für Anfänger gewann, und darüber wird wohl zu reden sein, das Pro-Sieben-Unterhaltungsformat Extreme Activity mit Jürgen von der Lippe.

Preisgekrönte Glanzleistung: Idealbesetzung Nina Hagen in der ProSieben-Sendung "Extreme Activity". (Foto: Foto: proSieben/willi weber)

Die Jury aus Journalisten und Medienwissenschaftlern (neun Mitglieder) war sich bei der Entscheidungsfindung im letzten Wahlgang größtenteils einig, auch wenn es nur wenige so formulierten wie ein Kollege, der seit fast zwanzig Jahren in der Grimme-Jury sitzt und erklärtermaßen keine Lust mehr hat, "Preise immer nur an Sachen mit Aidsinfizierten und Behinderten zu vergeben". Was wie eine Kampfansage an falschem Ort klingt, wirft die Frage auf, worum es beim Grimme-Preis geht.

Lange vor dem Deutschen Fernsehpreis gehörte er zu den bedeutendsten Auszeichnungen für Fernsehmacher. Er zieht seine Bedeutung im Unterschied zum Bambi oder Der Goldenen Kamera aus dem Umstand, dass er wie zu Beginn seiner nunmehr 43-jährigen Existenz auf nichts anderes als auf Qualität setzt.

So viel Unterhaltung war nie

Grimme bedeutet Anspruch in Reinkultur. Olli Dietrich hat ihn sogar einmal mit dem Nobel-Preis verglichen. An diesem Anspruch nun scheint mancher schwer zu tragen. Nachdem in den zurückliegenden Jahren oft nur noch darüber diskutiert wurde, wie viele Preisträger aus dem Privatfernsehen stammen, hat man sich in Marl, dem Sitz des Adolf-Grimme-Institutes, etwas Neues ausgedacht.

Den bewährten Preiskategorien "Fiktion & Unterhaltung" und "Information & Kultur" wurde erstmals eine eigenständige Kategorie "Unterhaltung" hinzugefügt, um der sich verändernden Medienrealität gerecht zu werden, wie es so schön heißt. Prompt ergatterten Privatsender so viele Nominierungen wie nie zuvor - acht von achtzehn allein in der "Unterhaltung".

Auch wenn sich durch die neue Kategorie ein etwas undurchsichtiger Kategoriensalat ergibt - denn wer will nun entscheiden, ob Unterhaltung gleichbedeutend mit Non-Fiktion ist? - kann gegen diese Entscheidung niemand ernsthaft Einwände haben. Gerade non-fiktionale Unterhaltungsformate haben bei den Privatsendern seit beinahe zehn Jahren beste Konjunktur, denkt man nur an Big Brother, Das Dschungel-Camp oder an DSDS, Genial daneben oder Die Super-Nanny, auch wenn das strenggenommen bereits wieder in die Kategorie "Information" hineinragt.

Eine Entertainment-Armada

Das Procedere in der Jury "Unterhaltung" gleicht dem der Nachbarkategorien. Nur die Bandbreite der nominierten Sendungen in der "Unterhaltung" dürfte neu gewesen sein, galt es doch vieles miteinander zu vergleichen: Frauentausch-Formate wie We are family (Pro Sieben) oder Suche Familie! (RTL 2); Primetime-Familien-Unterhaltung à la Schlag den Raab (Pro Sieben), Extreme Activity (Pro Sieben) und Die große Nachtmusik des ZDF sowie Guildo Horns Behinderten-Talk Guildo und seine Gäste (SWR); die Doku-Soap Die Özdags (WDR); Das perfekte Dinner (VOX) und Serien wie Pastewka (Sat1) oder eben Türkisch für Anfänger (BR/ NDR). Abgesehen davon, dass kaum mehr als ein Drittel der vorgeschlagenen Sendungen die Nominierung rechtfertigte, bedeutete dies ganz konkret, in der Jury Äpfel mit Birnen mit Pflaumen mit Nüssen zu vergleichen.

Der Preisträger Extreme Activity nun lädt zwei Mannschaften aus jeweils drei Männern und Frauen - am liebsten Verona Feldbusch, Dirk Bach, No-Angels-Angehörige, Lindenstraße-Bewohner, Vorabendsternchen - auf die Ottomane, damit diese sich gegenseitig Begriffe wie Nacktschnecke, Achselhaar oder Brustwarzenpiercing durch Pantomime oder Malen erklären.

Manchmal wird gegen Sumo-Ringer gekämpft, oder einer muss sich hinter eine Wand mit Loch stellen, aus der sein Gesicht herausschaut, und die anderen dürfen Torten darauf werfen. Alles ganz lustig, alles ganz witzig. Aber dafür gleich einen Grimme-Preis?

Ein kurzer Blick zurück: Beim Deutschen Fernsehpreis hat man in der Kategorie "Unterhaltung" Erfahrung, denn in ihr hier wird die beste Unterhaltungssendung gekürt. Als 2005 Clever und 2006 Genial daneben mit Hugo Egon Balder gewann, kommentierten die Beobachter diese Entscheidung mit den betretenen Worten, im nächsten Jahr würden diese Preisträger ohnehin vergessen sein. Tatsächlich jedoch, und das zeigt der Grimme-Preis für Extreme Activity, hat sich das Problem längst verstetigt: In Deutschland scheint niemand zu wissen oder sagen zu können, was gute Unterhaltung ist.

Loch, Gesicht, Torte?

Dabei wären es auch hier so simple Kategorien wie Kreativität und Innovation, die man auszeichnen könnte. Das Grimme-Preis-Statut ist hierfür eigentlich recht brauchbar. Es sieht vor, Preis an Formate zu vergeben, die "die spezifischen Möglichkeiten des Mediums Fernsehen auf hervorragende Weise nutzen und nach Form und Inhalt Vorbild für die Fernsehpraxis sein können."

Die Jury jedoch, das wurde in der internen Diskussion deutlich, tappte in die Falle. Man freute sich am meisten über die Sendungen, die die meisten Lacher produzierten, die am besten sinnfrei unterhalten konnten, so, als setze die Kategorie "Unterhaltung" die Verabschiedung von allen analytischen, benennbaren Kategorien voraus.

Es hätte ein Format gegeben, das die Anforderungen des Statuts und die Erwartung anspruchsvoller Unterhaltung verbunden hätte: Guildo und seine Gäste. Die Talkshow, in der Guildo Horn mit behinderten Gästen über Tagespolitik, ihr Leben, ihre Sexualität, ihre Gedanken spricht. Selten hat es ein so unkonventionelles und mutiges Unterfangen im deutschen Fernsehen gegeben, das obendrein eine Poesie auf den Bildschirm zaubert, die staunen lässt. Aber gut, Grimme-Preise für Behinderte, Türken, Aids-Infizierte, Schwule und Ossis hat es angeblich schon genug gegeben. Da könnte einem ja langweilig werden.

Die Autorin war Mitglied der Jury "Unterhaltung" beim 43. Adolf-Grimme-Preis.

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