Die Polizei warnt vor einem Alligator, der seltsame Tee-Zeremonien abhält, bei denen er auf Chips-Tüten trommelt und zu den Klängen einer Nähmaschine singt. Wer ihm zu nahe kommt, dem kann es passieren, dass ihm der Alligator gebrauchte Unterhosen überstülpt und sie danach zerschneidet. Gesehen wurde er im Klohäuschen an der Großmarkthalle, davor im Kösk und in der Glockenbachwerkstatt und bereits vor einem Jahr in der Import-Export-Kantine. Das Tier hört auf den Namen Alligator Gozaimasu, hat bis zu 35 Köpfe, von denen man aber nicht immer alle sieht, weil sie teilweise aus verschiedenen Ländern stammen.
Das klingt verrückt? Das ist es auch zu weiten Teilen. Verrückt im positiven Sinne. Denn bei Alligator Gozaimasu handelt es sich um ein schräges Musiker- und Künstlerkollektiv, dessen rund 35 Mitglieder unter anderem aus den Städten München, Berlin, Kapstadt, Kailua- Kona, São Paulo, Sapporo und Ivano-Frankivsk stammen und das am Donnerstagabend im Import Export sein Debüt-Album vorstellt. Das Herz des Alligators bildet das Münchner Experimental-Popduo Beißpony, bestehend aus Stephanie Müller und Laura Theis, die dem Alligator unter anderem ihre Stimmen, ihr Piano und ihre Nähmaschine leihen.
Der Geburtsort von Alligator Gozaimasu ist dennoch nicht München, sondern das japanische Sapporo. In der 1,9-Millionen-Stadt auf der Insel Hokkaido sind Stephanie Müller und der Münchner Videokünstler Klaus Erich Dietl im Mai 2015 gelandet, nachdem sie 2014 bei einem Artist-in-Residence-Aufenthalt in Antwerpen den Medienkünstler Mikio Saito kennengelernt hatten. Dieser lud sie und weitere Münchner Künstler in seine Heimatstadt Sapporo ein, es kam zu einer Gemeinschaftsausstellung und einem Musik-Festival. Sie tauchten in die experimentelle Musikszene in Sapporo ein, die Müller in ihrer Offenheit fast wie "das Westberlin der Achtzigerjahre" vorkam, und lernten an die 20 Künstler kennen, die heute allesamt Teil von Alligator Gozaimasu sind.
Bei einem späteren Filmprojekt stießen dann noch ukrainische Künstler dazu, und auch in München fanden sich etwa mit Colin Djukic, Horst Richard Fritscher, Michael Jandejsek und Monika Kliche weitere Mitstreiter. Die meisten von ihnen waren auch bei der Public Recording Session im September 2015 in der Münchner Import Export Kantine dabei, die die Grundlage für das Alligator Gozaimasu-Album bildet. Unter den spontanen, zusätzlichen Gästen waren beispielsweise die Regisseurin Doris Dörrie und eine Gruppe geflüchteter Mädchen.
Veranlasst wurde die Session durch einen München-Besuch von Aoi Maeda aka Aoi Swimming. Maeda stammt aus Tokio, ursprünglich aber ebenfalls aus Sapporo, und wurde über Mikio Saito mit Müller und Dietl bekannt gemacht. Die Musikerin ist neben Müller und Saito, der die letzten Monate als Stipendiat im Pasinger Ebenböckhaus war, so etwas wie die treibende Kraft hinter Alligator Gozaimasu. Die in der Kantine aufgenommenen Stücke, Geräusche oder auch Sprachfragmente wurden nach der Session an Alligator-Mitglieder geschickt und von diesen weiter bearbeitet. Die Ergebnisse sind nun zusammen mit Stücken von Alligator- nahen Bands wie Cup & Saucers oder SchnickSchnack auf dem Album zu hören. Es wird auf Japanisch, Englisch, Deutsch und Ukrainisch gesungen. House trifft auf Anti-Folk auf Dub auf Crunch-Rock, eine Roboterstimme auf hysterischen Micky-Maus-Gesang. Zu den zentralen Instrumenten zählt neben Essstäbchen und Nähmaschine ein Casio-Keyboard, bei "The Sweetness Of Men" von Cup & Saucers wird mit Chips und Chipstüten "gecruncht".
Die Grenze zum Hörspiel wird auf dem Album, das auf dem von Müller neu gegründeten "Rag Rec"-Label erscheint, mehrfach überschritten. Weswegen mit Fabian Zweck passenderweise beim Abmischen ein Sounddesigner beteiligt war, der bereits Hörspiele von Alexander Kluge vertont hat. Mit "Das letzte Loch ist der Mund" und "Promises & Other Failures" hat das Kollektiv mittlerweile auch zwei Filme in München abgedreht, die auf ähnlich experimentelle und humorvolle Weise die Themen "Lüge im Strafvollzug" und "Sterben und Vergänglichkeit" behandeln. In Form eines großen Zeremoniells wird darin unter anderem ein Selfie-Stick beerdigt. Alligator Gozaimasu ist übrigens ein Wortspiel mit "arigatou gozaimasu", was auf Japanisch "vielen Dank" heißt. Dass das "extrem Vorsichtige", das in dieser Höflichkeitsformel steckt, durch den Alligator "humorvoll aufgebissen" wird, das ist genau das, was Stephanie Müller daran so gefällt.
Alligator Gozaimasu: Album-Release , Donnerstag, 15. September, 21 Uhr, Import-Export-Kantine, Dachauer Straße 114