Goethe-Institut:Schwundstufen der Freiheit

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Beim gewaltigen "Kultursymposium Weimar" erörtern Schriftsteller und Denker aus aller Welt den weltweiten Demokratieverfall.

Von Felix Stephan

Das Goethe-Institut war lange eine Institution, deren Aufgabe vor allem darin bestand, überall auf der Welt kleine Bibliotheken mit deutscher Literatur vorrätig zu halten, Deutschkurse anzubieten und Lesungen mit Ilija Trojanow zu veranstalten. Vor Kurzem aber ist eine weitere Aufgabe hinzugekommen: die Ausrichtung des gewaltigen "Kultursymposiums Weimar", einer Konferenz, bei der alle drei Jahre Künstler, Autoren, Intellektuelle in Weimar zusammenkommen, die dem konkurrenzlosen kulturellen Netzwerk des Goethe-Instituts aufgefallen sind. Das Kultursymposium ist also eine Veranstaltung, bei der es vorkommen kann, dass eine Schriftstellerin aus Zimbabwe mit einer türkischen Verfassungsrechtlerin im Schatten der Ginkgobäume über die Bodenreform in Bolivien diskutiert.

Die Wahlergebnisse rund um den Globus in den letzten drei Jahren hatten nun zur Folge, dass die meisten Gäste in Weimar aus Ländern angereist waren, die von autoritären Führerfiguren regiert werden, weshalb es auf den Panels nun vor allem darum ging, dass die Bedingungen für die Kunst auch schon einmal besser waren. Die Länder, in denen autoritär-konservative Regierungen gegen Künstler vorgehen, sind heute weltweit in der Mehrheit, wodurch sich auch die Rolle ändert, die das Goethe-Institut dort spielt. Es geht nicht mehr nur um die Vermittlung deutscher Kultur, sondern um die Verteidigung der Kunstfreiheit im jeweiligen nationalen Kontext.

Ein gutes Beispiel für diese Metamorphose ist die Geschichte des brasilianischen Künstlers Wagner Schwartz: In seiner Performance "La Bête" stellte er seinen nackten Körper aus und forderte das Publikum auf, ihn in eine beliebige Position zu rücken. "La Bête" wurde in Europa und in den wichtigsten Museen Brasiliens gezeigt, natürlich auch vor Schulklassen. Als aber im Jahr 2017 eine brasilianische Mutter ihre Tochter aufforderte, auch selbst die Gliedmaßen des Künstlers zu arrangieren und von dieser Szene ein Video gemacht wurde, entfaltete die ultranationalistische Bewegung des heutigen Präsidenten Jair Bolsonaro eine beispiellose Kampagne gegen Wagner Schwartz, die die gesamte Gegenwartskultur unter Pädophilieverdacht stellte.

Als Bolsonaro dann zum Präsidenten gewählt wurde, fand sich das Goethe-Institut, das Wagner Schwartz immer wieder unterstützt hatte, auf der Seite der politischen Opposition wieder, weil es keine Einschränkungen der Kunstfreiheit hinnehmen konnte. Und weil sich Opposition und Kunstfreiheit neuerdings auch in Demokratien immer häufiger verschränken, gerät das Goethe-Institut zusehends in die Rolle eines politischen Akteurs, die es bis vor Kurzem nur in ausgesuchten Diktaturen innehatte.

Die Praxisberichte in Weimar klangen jedenfalls ernüchternd: Die polnische Kuratorin Marta Keil erzählte von der Zensurpraxis der Kaczyński-Regierung, aus den Philippinen berichtete der Performance-Künstler Carlos Celdran von seiner De-facto-Ausbürgerung, aus Indien ergänzte Pankaj Mishra Analysen der theokratischen Tendenzen der hindunationalistischen Modi-Regierung.

In seinem Buch "Das Zeitalter des Zorns" hat Pankaj Mishra den Aufstand der globalen Randregionen gegen den Liberalismus europäisch-amerikanischer Prägung damit erklärt, dass man sich in Indien, Afrika, Lateinamerika abgehängt fühle und außerdem den Eindruck habe, den Rückstand nie aufholen zu können. Von Rousseaus kosmopolitischem Paris über Preußen bis ins heutige China sei immer die gleiche Reaktion zu beobachten, wenn sich eine Hochkultur zu weit von der Peripherie entferne, so Mishra: Verachtung, Hass und die Sehnsucht, selbst an die Stelle der Herrscher zu treten. Dass die autoritäre Wende gerade die USA und Großbritannien erfasse, zeige nur, dass die Enttäuschung über den Liberalismus bis in ihr Herz vorgedrungen sei, sagte er in Weimar.

Als sein Buch 2017 erschien, gab es für die These, dass die autoritäre Wende auf wachsende Ungleichheit zurückzuführen sei, einige Zustimmung, gerade in Deutschland. In Weimar aber zeigte sich, dass streng genommen weder Kaczyński noch Modi, noch Bolsonaro, noch Duterte ihre Wahlerfolge den mittellosen Schichten verdankten. Der englische Historiker Emile Chabal formulierte die Lage in Weimar deshalb so: "Die Mittelschicht kann nicht in Panik geraten, wenn es keine Mittelschicht gibt." Vielleicht verhält es sich also vielmehr so, dass die Minderheiten weltweit den Preis für den Erfolg der liberalen Demokratie bezahlen. In den Schwellenländern sind es gerade die Globalisierungsgewinner, die antiliberale Führerfiguren wählen, weil sie sich von Minderheitenrechten und Meinungsfreiheit belästigt fühlen.

In Deutschland wird der Aufstieg der Populisten für gewöhnlich als Gefahr für die Demokratie und große Regression aufgefasst. Das sahen die internationalen Gäste entschieden anders: Jeder dieser autoritären Regierungschefs ist in einer Demokratie an die Macht gekommen, keiner von ihnen würde sich als Antidemokrat beschreiben, sie alle beziehen ihre Energie und Legitimität aus der Wahlkabine. Aus Polen berichtete zudem Konstanty Gebert, der brillante Kolumnist der Gazeta Wyborza, dass sich auch Wähler der Regierungspartei PiS nicht als Agenten einer Rückabwicklung begreifen, als die sie in Westeuropa verstanden werden. Sie sehen sich als politische Avantgarde, als Vorhut einer neuen Befreiungsbewegung.

Die Logik sieht so aus: Das 20. Jahrhundert werde in Polen weithin als Jahrhundert des Horrors und Blutvergießens verstanden, das für die Polen am Ende allerdings gut ausgegangen sei, weil es zum ersten Mal in der Geschichte eine homogene polnische Nation gebe. Die Deutschen hätten dafür gesorgt, dass die Juden verschwinden, die Sowjets hätten die anderen Minderheiten vertrieben, die Ukrainer, die Litauer, die Deutschen. 1989 schließlich habe die polnische Mehrheit endlich die Unabhängigkeit erlangt. Dass diese Mehrheit sich nun erneut nach den Bedürfnissen irgendwelcher Minderheiten richten solle, komme nicht infrage, schließlich sei man endlich demokratisch. Man habe nicht all das Blut vergossen, um sich wieder von Leuten auf der Nase herumtanzen zu lassen, die nicht einmal richtige Polen seien.

Diese antiliberale Schwundstufe der Demokratie, die ohne unabhängige Justiz, ohne Meinungs-, Presse- und Kunstfreiheit auskommen will, scheint gerade die weltweit dominante Regierungsform zu sein. Und sie versteht sich nicht als Gegenbewegung zur liberalen Demokratie, sondern als ihre nächste Evolutionsstufe.

© SZ vom 22.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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