Gegenwartsliteratur:Poetisches Egohacking

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Algorithmen berechnen die Zukunft voraus und definieren auf diese Weise die Gegenwart. Utopien entwickeln sie aber nicht, deshalb ist es Zeit für einen neuen Futurismus.

Von Charlotte Krafft

In seinem bei Merve erschienenen Buch "Metaphysik zur Zeit" schreibt der Berliner Philosoph Armen Avanessian: "Gewöhnlich orientieren wir uns gemäß einer linearen Zeit, die, so die chronologische Grundannahme, in der Vergangenheit entspringt und durch die Gegenwart in Richtung Zukunft verläuft." Avanessian aber glaubt, dass in komplexen Gesellschaften die Zeit nicht aus der Vergangenheit, sondern umgekehrt aus der Zukunft kommt.

Was "Gesellschaftsorganisationen wie die unsere nämlich auszeichnet, sind technologische Infrastrukturen, die immer mehr durch Automatisierung, Robotisierung und Algorithmisierung geprägt sind. Und mit dem Verlust des menschlichen Primats geht eine Lockerung oder ein Verlust unserer Gegenwartsverankerung einher." Wenn wir also sagen, "wir leben in einer neuen Zeit", meinen wir zwar nicht, dass sich die Zeit an sich verändert hat. Wir meinen, dass sich die Umstände verändert haben. Was aber, wenn sich tatsächlich auch die Zeit selbst verändert?

Moderne Technologien sind dem Menschen immer schon ein Stück voraus: Die proaktive Medizin kann Krankheiten diagnostizieren, die noch gar nicht ausgebrochen sind und sie dadurch im besten Fall verhindern. Die Polizei kann durch das so genannte "Predictive Policing" Straftaten aufhalten, bevor sie begangen werden. Und Amazon kann uns Werbung für Produkte zuschicken, von denen wir noch gar nicht wissen, dass wir sie haben wollen werden. Besonders deutlich offenbart sich die von Avanessian beschriebene Chrono-logik, in der Wirtschaft: Prognosen zur Zukunft einer Branche, eines Unternehmens oder einer nationalen Ökonomie nehmen retroaktiv Einfluss auf die gegenwärtigen Entwicklungen dieser Branchen, Unternehmen und Ökonomien. So können negative Voraussagen beispielsweise dazu führen, dass die Kosten für Investitionskapital steigen, dadurch weniger investiert wird, die Expansion stockt, und sich im Endeffekt jene negative Voraussage vom Anfang erst bewahrheitet. Einfacher gesagt: Die Finanzwelt funktioniert zum guten Teil nach dem Prinzip der selbsterfüllenden Prophezeiung.

Je stärker solche Prophezeiungen individualisiert werden, desto tiefer greifen sie auch in die Geschicke des einzelnen Menschen ein. Google Now etwa verspricht: "die richtigen Informationen zur richtigen Zeit" sowie "Karten mit hilfreichen Informationen für den Tagesablauf - und das sogar, bevor wir danach suchen." Dabei wird uns das Bedürfnis unterstellt, die Entscheidungsgewalt über unsere Gegenwart zumindest teilweise abzugeben. Google kennt unsere Zukunft und gestaltet mit diesem Wissen unsere Gegenwart. "Die Zukunft ist schon da", sagt der Schriftsteller William Gibson. "Sie ist nur ungleich verteilt". In diesem Fall besitzt Google nahezu ein Monopol.

Die Finanzwelt funktioniert nach dem Prinzip der selbsterfüllenden Prophezeiung

Trotzdem bringt es nichts, moderne Technologien zurückzuweisen, schreibt Avanessian, man müsse sie im Gegenteil beherrschen. Auf lange Sicht geht es also darum, den Code zu hacken, die Zukunft neu zu schreiben und dadurch Hoheit über die Gegenwart zurückzuerobern. Und wie jede gesellschaftliche Aufgabe, betrifft auch diese unmittelbar die Poesie. Sie könnte der Hintergrund sein, vor dem man den Trend zu futuristischer und spekulativer Literatur betrachten muss, der in Deutschland seit einiger Zeit zu beobachten ist.

Immer mehr junge Autoren wie Ann Cotten in "Lyophilia", Juan S. Guse in "Miami Punk", oder Julia von Lucadou in "Die Hochhausspringerin" wenden sich der Science Fiction oder anderen Formen spekulativer Literatur zu, in welcher Zukunfts-, Parallel- oder Alternativwelten entworfen werden. Sich dem Jetzt aus der Zukunft her zu nähern, ist die zeitgenössische Art der Gegenwartserschließung. Die Gegenwart zu beschreiben, indem man Aussagen über eine fiktive Zukunft trifft - das erscheint umso einleuchtender in einer Zeit, die aus der Zukunft kommt und die Gegenwart dadurch ungreifbar und aus gegenwärtiger Perspektive unbeschreibbar werden lässt.

In einem gewissen Sinne funktioniert spekulative Literatur ähnlich wie die Prophezeiungsalgorithmen in der Technik. Auch die spekulative Literatur kann durch Aussagen über die Zukunft Einfluss auf die Gegenwart nehmen, indem sie etwa ganz herkömmlich beim Leser eine ästhetische Erfahrung auslöst, die den Blick auf die Welt verändert. Oder auf ganz konkrete Weise, wie im Falle von William Gibson, dessen digitale Prophezeiungen so zuverlässig Wirklichkeit werden, dass man den Eindruck bekommt, im Silicon Valley baue man seine Romane nach.

Auffällig ist in diesem Zusammenhang, dass abgesehen von wenigen Ausnahmen derzeit alle spekulative Literatur dystopisch ist, als wäre die Katastrophe unausweichlich und jene Passivität, mit der wir den Ausverkauf unserer Zukunft beobachten, letztlich legitim. Andererseits scheint es heute nahezu unmöglich, noch ernsthafte Utopien zu entwerfen, weil jeder weiß, dass sie zum Totalitären neigen. Wie aber könnte ein Gegenentwurf zur modernen dystopischen Literatur, ein neues Sprechen über die Zukunft, dann aussehen? Vielleicht ist es notwendig, erst einmal einen neuen Modus zu finden.

Einen solchen Modus bietet die Ironie, und zwar nicht jene einfache, rhetorische Ironie, die immer eindeutig das Gegenteil des Gesagten meint und deren Sprecher sich ihrer Position bewusst sind und sein müssen, sondern eine romantische Ironie, wie sie Friedrich Schlegel im Sinn hatte: "In ihr soll alles Scherz und alles Ernst sein, alles treuherzig offen, und alles tief verstellt." Ein solche romantische Ironie ist keine Gegenposition zum Ernst, sondern "die Form des Paradoxen".

Romantisch ironische oder auch hyperironische Science-Fiction, das wäre eine Science-Fiction, die sich weder ernst noch rhetorisch ironisch gibt - eine spekulative Literatur, die Kontingenz zum poetischen Prinzip macht, zum Beispiel, indem sie Welten entwirft, deren Bestandteile so fremd sind, dass sie an Fantasy oder Dadaismus anmutenden Schwachsinn grenzen, ohne, dass man sie zweifelsfrei als Schwachsinn identifizieren könnte, denn wer weiß schon, was in der Zukunft schwachsinnig ist und was nicht.

Fiktive Daten könnten die Voraussagen der Algorithmen manipulieren

Der Rezipient könnte nicht mehr bestimmen, wie genau die Utopie "gemeint" ist. Und auch der Autor müsste nicht mehr entscheiden, inwiefern er sie ernst nimmt oder nicht, weil die romantische Ironie die Unterscheidung zwischen Ulk und Ernst aufhebt. Genau darin bestünde die neue Freiheit. Ansatzweise finden wir diesen romantisch ironischen Modus zum Beispiel in Leif Randts Roman "Planet Magnon".

Wie aber sollte eine solche Literatur im Stande sein, die Gegenwart zu verändern? Wenn man nicht entscheiden kann, ob und inwiefern die entworfene Zukunft erstrebenswert ist, kann schwerlich darüber spekulieren, auf welche Weise sie sich auf die Gegenwart auswirken wird. Aber vielleicht liegt eben darin das Potenzial dieser Kunst. Sie verfährt spekulativ wie die Finanzindustrie, nur eben nicht zweckorientiert, sondern destabilisierend.

Sie entwickelt eine Vision, der man sich nicht anschließen kann.

Weiter gedacht führt dieser Gedanke zu der Frage, ob wir romantische Ironie nicht auch im Alltag als gezielte Irritation von Algorithmen verstehen könnten. Durch die Produktion fiktiver Daten könnten Voraussagen über die Zukunft manipuliert werden und damit würde wiederum Einfluss auf die Gegenwart und das gegenwärtige Individuum genommen werden.

Wenn wir davon ausgehen, dass das Selbst nie einfach als solches existiert, sondern es immer (schon) produziert wird, wobei der jeweilige technologische Stand einer Gesellschaft eine zunehmend große Rolle spielt, dann wäre diese Aneignung von Technologie nicht nur eine Befreiung, sondern eine Selbstermächtigung, ein poetisches Egohacking, eine digitale Autopoiesis.

© SZ vom 19.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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