Gegenwart:Die Leere ohne die Welt da draußen

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Staaten grenzen sich zunehmend voneinander ab. Und in Gianna Molinaris Debütroman versucht eine junge Frau dasselbe. Schritt für Schritt zieht sie Grenzen um sich.

Von Christoph Schröder

Ein Mann ist vom Himmel gefallen. Lose, der mit dem Gewehr im Anschlag auf seinem Jagdansitz saß und sich gerade Kaffee aus der Thermoskanne eingoss, hat es beobachtet. Er hat etwas fallen sehen - es war groß und ungeheuer schnell - hat aber dabei nicht an einen Menschen gedacht, sondern eher an eine Wahrnehmungsirritation, einen Fleck auf der Netzhaut, einen ungünstigen Lichteinfall. "An der Stelle", heißt es, "an der der Mann auf dem Boden aufprallte, dort, wo er später gefunden wurde, steht jetzt ein Kreuz."

Die Geschichte vom Mann, der vom Himmel fiel, hat die 1988 geborene Schweizerin Gianna Molinari als Leitmotiv in ihren Debütroman integriert. Sie hat sich tatsächlich so zugetragen, wie sie im Buch erzählt wird: Ein Mann, wahrscheinlich ein afrikanischer Flüchtling, hatte sich im Fahrwerk eines Flugzeugs versteckt und war bei Temperaturen um minus 60 Grad während des Flugs erfroren. Als das Fahrwerk bei der Landung ausfuhr, fiel der Mann nahe Weisslingen, etwa 30 Kilometer vom Flughafen Zürich-Kloten entfernt, buchstäblich aus den Wolken. Der Vorfall ereignete sich im Jahr 2010, und es ist zu vermuten, dass er die Initialzündung für Molinaris Roman war, dem allerdings nichts Dokumentarisches oder Reportagehaftes anhaftet. Vielmehrentwickelt Molinari auf noch nicht einmal 200 Seiten eine anspielungsreiche Erzählung, die eine Atmosphäre des Zeitlosen beibehält.

Die Ich-Erzählerin ist eine junge Frau, die ihr bürgerliches Leben als Bibliothekarin hinter sich gelassen hat. Die Gründe dafür erfährt man nicht. In einer Fabrik für Kartonverpackungen lässt sie sich als Nachtwächterin einstellen. Eine doppelt vergebliche Tätigkeit: Zum einen geschieht in der abgelegenen Fabrik ohnehin nichts. Jedenfalls nicht im Sinne einer strafbaren Handlung, die verfolgt werden müsste. Zum anderen steht die Fabrik kurz vor der Schließung; Produktionstätigkeit und Personal sind stark geschrumpft. Neben dem Chef und der Nachtwächterin sind nur noch Clemens, der zweite Nachtwächter da, ein Koch, der fast ausschließlich für die Gefriertruhe arbeitet, und eben jener Mann namens Lose, der den Mann beobachtet hat, der vom Himmel fiel.

Die Autorin Gianna Molinari, geboren 1988 in Basel. (Foto: Aufbau Verlag/Christoph Oeschger)

Der Leerlauf des täglichen Betriebs lässt Raum für abseitige Überlegungen. Und die hat Gianna Molinari geschickt in ihren Roman verwoben. Die leere Fabrik ohne Zukunft, dient der Erzählerin als Echoraum ihrer Gedanken. Der Mann, der vom Himmel fiel und zuerst gar nicht als Mensch erkannt wurde, ist nur ein Bestandteil einer kleinen Philosophie des Sehens und Nichterkennens, die an unterschiedlichen Phänomenen exemplifiziert wird: Ist der Schatten des Vogels, der sich in die Produktionshalle verirrt hat, von Bedeutung oder nur der Vogel selbst? Wie sieht die Skulptur eines Elefanten aus, die ein Künstler angefertigt hat, der noch nie einen Elefanten gesehen hat und sich allein auf mündliche Beschreibungen verlässt? Und ist das, was da über den Kontrollbildschirm huscht, eine Katze? Oder der Wolf, der angeblich auf dem Fabrikgelände gesehen wurde und nun, auf Geheiß des Chefs, mithilfe von Fallen eingefangen werden soll?

Das Motiv des streunende Wildtiers, sei es Fuchs oder Wolf, wurde als Symbol einer Existenz frei von Zwängen, in der deutschsprachigen Literatur der letzten Zeit oft strapaziert, bei Roland Schimmelpfennig, Annika Scheffel, Mareike Krüger. Davon abgesehen gelingt Molinari die Übertragung der Motive privater Unsicherheit auf die sozialen Verhältnisse in überzeugender Weise. Um ihre Wahrnehmungen einigermaßen zu ordnen, schreibt die Erzählerin an einem Kompendium, dem sie den Namen "Universal-General-Lexikon" gegeben hat. Es scheint wiederum nur aus Abseitigkeiten zu bestehen.

Gehört die Fabrikhalle zur Welt, fragt sich die junge Frau. Oder findet die Welt außerhalb der Halle statt? Die sich entgegenstehenden Logiken von außen und innen strukturieren den Roman. Das Innen des Fabrikgeländes ist die Welt der Gewissheiten. Was sich außerhalb davon befindet, erweist sich als fragwürdig und diffus. In dem Bestreben, sich Freiräume zu erschaffen, zieht die Erzählerin freiwillig Grenzen um sich selbst. Schritt für Schritt verengt sie ihr Lebens- und Arbeitsumfeld, während Menschen wie der Mann, der vom Himmel fiel, zum Opfer der restriktiven staatlichen Grenzkontrollen werden. "Ich zweifle daran", schreibt die Erzählerin, "dass die Sicherheit, in der ich lebe, der Realität entspricht. Ich sehne mich nach Unsicherheit, nach mehr Echtheit, nach Wirklichkeit."

Vielleicht stehen solche Sätze allzu programmatisch in diesem Buch. Schon die Behauptung des Titels - "Hier ist noch alles möglich" -, erweist sich als Illusion: in Bezug auf die Lebensgeschichte der Erzählerin wie in Bezug auf die Gesellschaft. Der Roman bleibt der Dezenz verpflichtet; er ist fein und präzise gearbeitet. Molinari pflegt ein Erzähltempo, das mit dem Begriff "getragen" freundlich umschrieben wäre. Dieses Buch hat nicht viele Seiten, ist aber keinesfalls zu kurz. Das aber spricht nicht gegen ein Debüt, in dem die Autorin die Krise eines Individuums mit der Krisenhaftigkeit der Gegenwart in Verbindung bringt und dafür immer wieder originelle Bilder findet.

Gianna Molinari: Hier ist noch alles möglich. Roman. Aufbau Verlag, Berlin 2018. 192 S., 18 Euro.

© SZ vom 30.07.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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