Geb-Debatte:Rom liegt jenseits des Rubikons

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2. Teil

Hubert Markl

Alles zusätzlich überwölbt von biogenen Medienspektakeln sondergleichen: Als nämlich Craig Venter wie Moses vom Datenberg herabstieg, die mit 3,2 Milliarden Nucleotiden beschrifteten Festplatten in der Hand; und siehe da, das Volk tanzte zwar mit Jubelgesängen aller Feuilletons und Wirtschaftskommentatoren um das goldene Kalb, aber es war das entschlüsselte Genom selbst, um das es tanzte. Wen kümmerte es da noch, dass es nur teilentschlüsselt war und in vielen Teilen auch noch nicht einmal ganz richtig? Die biotheologischen Übertreibungen konnten gar nicht groß genug ausfallen: Die Handschrift Gottes habe man entziffert, als sei's die neueste Auflage seines Neuen Testaments.

(Foto: N/A)

Wir sollten uns auch nicht darüber wundern, wie groß das Verlangen vieler nach klaren Wegweisungen und Grenzziehungen ist, möglichst aus berufenem Mund und möglichst unbezweifelbar in ewigen Werten und Wahrheiten verankert. Der Wunsch danach ist einsichtig, aber er wird die Menschen von den Zweifeln und Mühen eigenen kritischen Urteils nicht befreien können. Kein noch so sorgfältig argumentierender Ethikrat, dessen Argumente wir übrigens doch erst einmal hören sollten, ehe wir sie gleich vorweg verdächtigen, kann uns davon befreien, uns selber in entscheidenden Fragen für eigenes Urteil kundig zu machen. Und wer mit gut gemeintem moralischen oder juristischen Machtwort die verwirrten Debatten beenden möchte, wird merken, dass sie gerade deshalb weitergehen. Denn wo ein jeder Mensch im eigenen Innersten berührt ist, da ist er letztlich selbst für seine Gewissensentscheidungen verantwortlich, solange wie wir in einer Gesellschaft leben, die darauf begründet ist, in der Gewissensfreiheit jedes einzelnen den Kern der Würde jedes Menschen zu achten. Letzten Endes geht es dabei immer darum: Was ist der Mensch? Die streitige Erörterung dieser Frage ist inzwischen so weit fortgeschritten, dass sich so mancher Lebenswissenschaftler bald nur noch in Begleitung eines Verfassungsjuristen und Moraltheologen ins Labor trauen wird; und wenn nicht ins Labor, dann jedenfalls in die Öffentlichkeit.

Ich will nicht leugnen, dass es immer wieder Biologen mit solchen Allmachtsfantasien gibt. Aber man muss solche vollmundigen Ansprüche nicht ernster nehmen, als sie es verdienen. Ich will daher ganz nah am Thema, das die Öffentlichkeit derzeit so bewegt, bleiben und an diesem Beispiel deutlich machen, zu welch unsinnigen Schlussfolgerungen es führt, wenn wir die Wurzeln mit einer ganzen Pflanze, die Fundamente mit einem Bau, die Voraussetzungen mit den Konsequenzen oder ganz drastisch das Ei mit dem Huhn verwechseln oder sogar in einen Topf werfen, wenn wir also die Tatsache der evolutionären Emergenz neuer Phänomene leugnen oder missachten, die doch der wichtigste Ausdruck der schöpferischen Kraft der Natur ist, von der Entstehung der Gestirne bis zu der des Lebens, von der Entstehung der Arten bis zu der von Kultur und Geist.

Doch das, woraus sich etwas Neues entwickelt, ist nicht identisch mit dem Neuen selbst. Dies gilt auch für den Menschen. Jede geborene menschliche Person ist etwas einmalig Neues, das sich aus einer befruchteten Eizelle entwickelt hat. Aber deshalb ist die befruchtete Eizelle noch lange kein Mensch, jedenfalls nicht als eine naturwissenschaftlich begründete Tatsache; allenfalls dann, wenn wir dem Begriff "Mensch" - und zwar durchaus willkürlich - eine ganz andere Bedeutung als bisher zuweisen. Das hat damit zu tun, was wir sinnvollerweise meinen, wenn wir einem Lebewesen den Begriff "Mensch" zuordnen. Dies ist nämlich kein Etikett der Natur, sondern eine selbstbezügliche Redeweise von Menschen, deren Bedeutung nicht die Natur festlegt, sondern die sie selbst bestimmen. Ich muss mich, dies zugleich verdeutlichend, sofort korrigieren: Das bezieht sich nicht einmal nur auf Lebewesen, denn natürlich betrachten wir ein verstorbenes Mitglied der Menschengemeinschaft unverändert als - wenn auch nicht länger lebenden - Menschen, und wir zögern keinen Augenblick, ihm Menschenwürde in der Form der Achtung vor der Würde eines Toten, eines toten Menschen nämlich, zum Unterschied von jedem toten Tier, zuzusprechen.

Nichts könnte deutlicher machen, dass "Mensch" ein kulturbezogener Zuschreibungsbegriff von Menschen ist und keine rein biologische Tatsache, es ist eine kulturell-sozial begründete Attribution. Deshalb kann sich seine Definition auch nicht in molekulargenetischen Tatsachen wie dem chemisch beschreibbaren Vorhandensein jener 3,2 Milliarden Nucleotiden bestimmter Reihenfolge in einer Zygote erschöpfen.

Wir wissen, dass, heute wie in der Vergangenheit, verschiedene Kulturen den Zeitpunkt des Beginns der Zuschreibung des Menschseins gegenüber dem sich entwickelnden Embryo oder Fötus sehr verschieden gewählt haben und noch wählen, selbst bei genauer Kenntnis der Tatsache, dass der Embryo seinen Entwicklungsanfang in der Vereinigung von Ei- und Samenzelle hat. Aus Gründen, die ich noch näher ausführen werde, finde ich dabei die Stellungnahme jüdischer Religionsgelehrter besonders überzeugend, einer Religion, der es wahrhaftig weder an Scharfsinn der Argumentation, wissenschaftlichen Kenntnissen, Gesetzestreue und Achtung des Lebens mangelt. Sie weist nämlich der Tatsache, dass sich der Mensch nur in engster Verbindung zu einem mütterlichen Körper entwickeln kann, eine besondere Bedeutung für die Menschwerdung zu. Um dem böse Interessen unterstellenden Gegenargument - mit einer solchen Feststellung würde der nicht in einen Uterus implantierte Embryo zum "Freiwild der Forscher" - sogleich zu entgegnen: Selbstverständlich hindert nichts daran, auch der nicht implantierten Zygote und dem nicht von der Mutter physisch wie psy-chisch aufgenommenen Embryo eine ganz andere Qualität, nämlich menschliche Qualität, im Sinne des Grundgesetzes also Menschenwürde, zuzusprechen, ganz analog zu dem, was ich eben zu toten Menschen sagte, und daher den Umgang mit Menschenembryonen anderen Normen zu unterwerfen als den mit Mäuseembryonen, etwa einem strikten Begründungs- und Genehmigungsvorbehalt für jede forschende Verwendung.

Mir kommt es nur darauf an, nachdrücklich darauf hinzuweisen, dass - selbst in heutigen Hochkulturen, die keiner moralischen Belehrung durch uns bedürfen, - dieser Akt der Zuschreibung des vollgültigen Menschseins mit allen Pflichten vorbehaltlosen Schutzes seines Lebens durchaus verschieden begründet wird. Dies ist auch unserer Rechtsprechung wie Lebenspraxis alles andere als fremd, sonst wäre die nach langem Ringen weitgehend rechtsfriedliche Regelung von Abtreibungen, aber auch die allgemein akzeptierte Verwendung von einnistungshemmenden Mitteln zur Geburtenkontrolle nicht möglich.

Ich weise auf diese Art der gesellschafts- und kulturabhängigen Zuschreibung des Menschseins mit allen Rechtsfolgen auch deshalb hin, weil der nach intensiver Vorberatung und ernster offener Debatte mit großen Mehrheiten in Unterhaus wie Oberhaus gefasste Beschluss des britischen Gesetzgebers, Forschung an und mit menschlichen Embryonen und mit Zellkulturen aus solchen Embryonen bis hin zum therapeutischen Klonen in den ersten zwei Lebenswochen unter sorgfältig zu begründenden und streng kontrollierten Bedingungen freizugeben, alles andere als die Verabschiedung Großbritanniens aus der abendländischen Wertegemeinschaft darstellt, so wenig wie bevorstehende ähnliche Regelungen in Frankreich und wohl bald auch anderen europäischen Ländern. Vielmehr handelt es sich dabei genau um jenen Vorrang politischer Entscheidungen vor partikularen gesellschaftlichen Forderungen, sei es von der Wissenschaft, der Wirtschaft oder von Weltanschauungsgruppen, den der Bundespräsident ganz zu Recht auch bei uns eingefordert hat. Selbstverständlich zwingt uns Deutsche nichts dazu, uns dieser britischen Parlamentsentscheidung anzuschließen oder jener Frankreichs, Israels oder anderer Länder.

Aber gerade in einer zusammenwachsenden Gemeinschaft europäischer Nationen täten wir vielleicht doch gut daran, zu hören und abzuwägen, was die Argumente anderer abendländischer Nationen sind, die nicht weniger als wir in freien, demokratischen Rechtsstaaten leben, ehe wir gemeinsam mit dem Vatikan das Hochufer moralischer Letztbegründungen zu besetzen suchen. Selbstverständlich gilt für alle Wissenschaftler in Deutschland, dass sie sich streng und ausnahmslos an die Gesetze unseres Landes zu halten haben und an alle Verfassungsgebote, so wie sie die Beschlüsse des Bundesverfassungsgerichtes verbindlich, wenn auch, wie wir wissen, keineswegs unveränderlich, auslegen.

Dass dabei in Abwägung aller einschlägigen Interessen, Werte und Rechtsgüter am Ende, wie manchmal abschätzig gesagt wird, "willkürliche" Entscheidungen - wie jene der Dreimonatsgrenze in der Abtreibung - unvermeidlich sind, sollte bei genauerem Überlegen gerade als Ausdruck menschlicher Gewissensfreiheit und moralischer Verantwortlichkeit gesehen werden: Der Mensch ist eben dadurch mit Menschenwürde begabt, dass er sich nicht Naturfakten - wie dem Zeitpunkt einer Zellkernverschmelzung - in seinen verantwortlich zu treffenden Entscheidungen zu unterwerfen hat. "Willkür" bedeutet dann nichts anderes als den Willen zur Urteilskraft und zur "Kür", das heißt zur Auswahl zwischen Entscheidungsalternativen.

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