Gast:Ein Historiker räumt auf

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Mark R. Cohen hält die Antrittsvorlesung zu seiner Gastprofessur in der Allianz

Von Eva-Elisabeth Fischer, München

Barbara Eggenkämper, jung und tatkräftig, ist es gewohnt, wieder einmal die Dame im Gruppenbild ehrwürdiger Amts- und Anzugträger zu sein. Die Historikerin leitet das Firmenhistorische Archiv der Allianz und ist damit die Organisatorin dieses besonderen Abends in einem der Firmengebäude an der Leopoldstraße. Dieser Abend beginnt mit einem förmlichen Prolog gebührlicher Verneigungen und Dankesgirlanden und leitet mit eben jenem Gruppenfoto für die Firmenannalen zu einem kleinen Empfang über.

Das Herz der Veranstaltung aber ist eine Antrittsvorlesung, mit dem geschichtsträchtigen und dabei brandaktuellen Titel "Modern Myths of Muslim Antisemitism" (Moderne Mythen des muslimischen Antisemitismus). Die These: Basiert der heutige muslimische Antisemitismus auf alten islamischen Texten, gar dem Koran? Oder ist er nicht vielmehr ein Phänomen, das einhergeht mit den Entwicklungen der vergangenen 200 Jahre? Die Allianz initiierte im Jahr 2002 und sponsort seitdem als Reaktion auf die Anschläge vom 9. September 2001 zusammen mit der Ludwig-Maximilians-Universität ein beispielhaftes Unterfangen, das dem besseren Verständnis und der Verständigung der Kulturen dienen soll: eine Stiftungsprofessur für Islamische und Jüdische Studien.

Judaisten und Islamisten lauschen an diesem Abend im knallvollen Vortragsraum einträchtig ihrem Gastdozenten Mark R. Cohen, dem Emeritus für Nahoststudien an der Princeton University, und demonstrieren damit jene gegenseitige Toleranz, wie sie für die interreligiöse Utopie der drei Weltreligionen Voraussetzung wäre. Cohen hat dieses Diktum geprägt und umschreibt damit bereits, dass solche Toleranz auch im Mittelalter nicht vorhanden war. Denn Juden und Muslime lebten zwar weitgehend friedlich nebeneinander her, solange Juden wie auch Christen die Vorherrschaft des Islam akzeptierten. Von gleichberechtigter Koexistenz konnte demnach keine Rede sein.

Cohen hat sich spezialisiert auf die jüdisch-islamische Geschichte des Mittelalters und namentlich auf die Erforschung der Kairoer Geniza. Dabei handelt es sich um religiöse und profane Schriften, die traditionell von den jüdischen Gemeinden in einem Mauergelass, einem kleinen Raum, aufbewahrt wurden und heute als wertvolle Zeugnisse vom Leben und den Gebräuchen der Zeit dienen. Außerdem geben sie Auskunft über das Zusammenleben von Juden, Muslimen und Christen. Cohens fundierte Kenntnis islamischer und jüdischer Schriften gestattet es ihm, gegen Juden gerichtete muslimische Schmähungen weniger als antisemitisch denn als die im Islam sanktionierte Verachtung gegen das "Andere", das "Andersartige" zu begreifen. Selbst wenn man in Einzelfällen von muslimischem Antisemitismus sprechen konnte, sei dieser niemals vergleichbar mit den blutigen Auswüchsen christlicher Judenverfolgungen.

Der moderne Antisemitismus gedieh dank des Kolonialismus im 19. Jahrhundert, der von europäischen Juden gestützt wurde. Ideologisch gefüttert wurde auch muslimischer Antisemitismus durch "Die Protokolle der Weisen von Zion", weiter angestachelt durch die nationalsozialistische Judenhetze. Die politisch instrumentalisierte Besiedlung der infolge des Sechs- Tage-Krieges besetzten Gebiete wie auch die aktuelle israelische Politik legitimierten einen neuen Antisemitismus unter dem Deckmantel des Antizionismus, wie er auch in Deutschland virulent sei. Andererseits lehren fanatische Islamisten seit 9/11 alle Menschen, auch im freien Westen, das Fürchten und nicht nur die Juden.

Mark R. Cohen, und damit schließt sich der Kreis, argumentiert, wie zum Beispiel die Hamas als Schöpferin antisemitischer Mythen mithilfe aus dem Zusammenhang gerissener und damit verfälschter Koranzitate gegen Israel und die Juden hetzt. Wie andere ratlose, ja verzweifelte Juden plädiert Mark R. Cohen mit Blick auf Israel und die autonomen Gebiete für eine Zwei-Staaten-Lösung. Und damit für eine längst nicht nur interreligiöse Utopie.

© SZ vom 06.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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