Französisches Nachschlagewerk über die Deutschen:Die germanische Welt von A bis Z

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Auch wenn es um die Nachbarn geht, haben es die Franzosen gern enzyklopädisch: Der "Dictionnaire du monde germanique" versucht den Franzosen zu erklären, wie die Deutschen ticken.

Johannes Willms

Zu den vielen, bewundernswerten Besonderheiten Frankreichs gehört die Vitalität von Traditionen, die nicht von Vereinen oder Akademien mühsam aufrechterhalten werden, sondern sich des Zuspruchs einer breiten Öffentlichkeit erfreuen.

Eine dieser Traditionen ist, das Wissen über Epochenzusammenhänge oder auch über einzelne komplexe historische Figuren enzyklopädisch aufzubereiten, will sagen, die Fülle ihrer Facetten nach Begriffen und Phänomenen zu gliedern und nach alphabetisch geordneten Stichworten in von Fachleuten verfassten Artikeln abzuhandeln.

Dass das Angebot und die thematische Vielfalt solcher Kompendien trotz des rastlos tätigen Dr. hc. mult. Johann-Baptist Google ständig zunimmt, erklärt sich unter anderem aus den Eigenarten des französischen Schulwesens, das Schülern und Studenten in Prüfungen ein hohes Maß an Faktenwissen abverlangt.

Um dieses rasch und umfassend aufzufrischen, eignen sich solche Nachschlagewerke vorzüglich, zumal sie die Stichworte nicht lexikalisch verknappt darstellen, sondern jeweils in einem umfassenden Zusammenhang erläutern.

Davon abgesehen sind diese "Dictionnaires" für alle jene von großem Nutzen, die sich rasch und verlässlich Aufschluss über Fakten und Zusammenhänge auf vorzugsweise historisch-, geistes- oder kulturwissenschaftlichen Gebiet verschaffen wollen.

Zur Fülle der bereits vorhandenen thematischen Nachschlagewerke ist jetzt der "Dictionnaire du monde germanique" hinzugetreten. Dieses Unternehmen ist zunächst einmal deshalb bemerkenswert, als es den ersten Versuch darstellt, das französischem Verständnis höchst fremde und befremdliche Phänomen von Wesen und Sein seiner östlichen Nachbarn ebenso umfassend wie systematisch zu vermitteln.

Welche Schwierigkeiten sich da auftaten, verrät bereits der gewählte Titel: "Monde germanique", was soviel heißt wie "germanische Welt", ein Begriff, der, wie den Herausgebern bewusst ist, mancherlei fatale Assoziationen weckt. Dass sie sich dennoch dazu resignierten, rechtfertigten sie überzeugend damit, dass sich so die historisch ausgeprägte Variabilität des deutschen Sprach- und Kulturraums, der neben Deutschland auch Österreich und die alemannische Schweiz umfasst, auf einen begrifflichen Nenner bringen ließ.

Grenzverkehr der Begriffe

Ein weiteres Problem stellte sich damit, dass die Herausgeber auch die Ausstrahlung der deutschen Kultur über ihren eigentlichen Sprachraum hinaus insbesondere auf Frankreich wie umgekehrt deren Aufnahmefähigkeit von vornehmlich französischen und anderen Einflüssen angemessen berücksichtigen wollten.

Auch deshalb bestimmten sie als Ausgangspunkt ihrer Darstellung die Redaktion der gotischen Bibel durch Wulfila im vierten Jahrhundert und nicht beispielsweise die fränkische Reichsteilung in der Nachfolge Karls des Großen. Dessen ungeachtet wurde der Schwerpunkt jedoch auf die Zeit nach 1750 und thematisch auf die Bereiche Geschichte, Literatur, Philosophie, Künste und Naturwissenschaften gelegt.

Eine dritte große Schwierigkeit, mit der man sich konfrontiert sah, ist die sehr unterschiedliche Semantik. Die in Deutschland traditionell scharf unterschiedene Bedeutung von Kultur und Zivilisation ist dem französischen Verständnis ebenso fremd und schwer verständlich wie die für das kulturelle Selbstverständnis der Deutschen so zentralen Begriffe Heimat oder Bildung.

Dessen ungeachtet stellt der "Dictionnaire du monde germanique" eine sehr respektable Leistung dar, deren Benutzung durch ein Namens- und Ortsregister sowie ein detailliertes Inhaltsverzeichnis sehr erleichtert wird.

Allein die statistische Auswertung des Namensregisters ist erhellend. Am häufigsten, insgesamt 127 Mal, wird Goethe genannt; auf ihn folgen Kant mit 77 Nennungen und überraschenderweise Herder mit 71. Es folgen Hitler mit 66, Hegel mit 62 und Schiller mit 61 Verweisen.

Fast gleichauf liegen hingegen Heine mit 48, Nietzsche mit 47, Brecht mit 43, Bismarck mit 42 und Marx mit 41 Nennungen, während Luther 37, Wagner 36, Tieck 34 und Heidegger 31 Mal erwähnt werden.

Allein diese Kumulation gibt einen Hinweis darauf, mit welch vorbildlicher Unvoreingenommenheit dieses Nachschlagewerk erarbeitet worden ist, das auf über 1200 Seiten rund 900 Namen, Stichworte und Begriffe erläutert. Unvermeidlich jedoch, dass bei einem solchen Unterfangen, das jetzt erstmals angegangen wurde, eine Reihe von Unzulänglichkeiten und Versäumnissen ins Auge fallen.

Beispielsweise vermisst man einen Begriff wie Gemüt oder Gemütlichkeit, der für das deutsche Sein und Wesen nicht minder wichtig ist als Heimat. Ein eigenes Stichwort verdient hätte auch der komplexe Begriff Vergangenheitsbewältigung.

Der zentrale Begriff "Gemütlichkeit" wurde vergessen

Andererseits jedoch wird dem in Deutschland kaum bekannten Philosophen Karl Christian Friedrich Krause (1781 - 1832) ein Artikel gewidmet, dessen idealistisch geprägte Philosophie als "el Krausismo" in Spanien und Lateinamerika großen Einfluss ausübte.

Angesichts dessen ist es umso schwerer nachvollziehbar, dass zwar dem Schriftsteller Arno Schmidt ("Zettels Traum") ein eigener Artikel gewidmet ist, nicht aber dem Staatsrechtler und Kronjuristen des "Dritten Reichs" Carl Schmitt, der in Frankreich keineswegs ein Unbekannter ist.

Dankbar ist man jedoch dafür, dass der zwar dem Französischen entlehnte, aber im Deutschen ganz anders verstandene Begriff "Feuilleton" hier sehr sachkundig erläutert wird, unter Einschluss der Entstehung der modernen Literaturkritik in Deutschland bei Gotthold Ephraim Lessing, Matthias Claudius und Justus Möser.

In einigen Artikeln schließlich vermisst man ausgerechnet das, was im Zusammenhang dieses Lexikons deren Pointe ausgemacht hätte. So beispielsweise beim Stichwort "Villes", in dem unerwähnt bleibt, dass auch die nicht zu Preußen gehörenden deutschen Landstädte bis weit ins 19. Jahrhundert hinein eine Fülle eifersüchtig verteidigter Rechte besaßen, die ihnen Autonomie in Fragen der Gewerbeordnung, des Heirats- und Bürgerrechts verliehen.

Gestützt darauf konnten diese Städte die soziale, wirtschaftliche und auch politische Entwicklung in Deutschland nachhaltig behindern und waren damit ein entscheidender Faktor für die "verspätete Nation".

Angesichts des Umfangs, der großen thematischen Spannweite und innovativen Leistung dieses "Dictionnaire du monde germanique" läuft solche Detailkritik jedoch Gefahr, als Beckmesserei zu erscheinen.

Zu wünschen wäre deshalb vielmehr, dass auch diese Publikation wie schon die bekannte Reihe der von Pierre Nora herausgegebenen "Les Lieux de Mémoire" ein deutsches Pendant fände, also ein "Lexikon der französischen Zivilisation" in Angriff genommen würde. Für ein besseres Verständnis von Kultur und historischer Prägung unseres Nachbarlandes wäre ein solches Werk jedenfalls sehr zu wünschen.

ELISABETH DÉCULTOT, MICHEL ESPAGNE, JACQUES LE RIDER (HRSG): Dictionnaire du monde germanique. Verlag Bayard, Paris 2007, 1309 Seiten, 129 Euro bis zum 31. Januar 2008, danach 149 Euro.

© SZ vom 24.11.2007/jkr - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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