Frankreich und die Nazi-Zeit:Die Gegenwart des Schreckens

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Es hat lange gedauert, bis die Franzosen das Ausmaß von Deportationen und Vernichtung im eigenen Land wahrgenommen haben. Nun wird in Paris das größte europäische Holocaust-Museum eingeweiht.

Von Johannes Willms

Der Zug mit Deportierten, mit Juden und Résistance-Kämpfern, derer die Gestapo habhaft geworden ist, verließ den Hauptbahnhof von Lyon am 15. August 1944. Es war der letzte "express fantôme", der von Frankreich nach dem Osten, in die Vernichtungslager, abgefertigt wurde.

Die Mauer mit den Namen der Opfer der Shoah. (Foto: Foto: dpa)

Die Alliierten waren seit ihrer Landung am 6. Juni an den Küsten der Normandie schon bis südwestlich von Paris vorgestoßen, während im Südosten des Landes der "maquis" weite Landstriche kontrollierte.

Der Zug war deshalb ohne Halt mit seiner menschlichen, in Viehwaggons eingepferchten Fracht, zehn lange, heiße Sommertage unterwegs, ehe er an der Rampe von Auschwitz anlangte.

Von den rund 65.000 "résistants", die aus Frankreich mit solchen Zügen in die Konzentrations- und Vernichtungslager geschafft worden waren, kehrten im Frühjahr 1945 nur 40.000 lebend, aber mit tiefen, unauslöschlichen Spuren an Leib und Seele nach Frankreich zurück. Von den mehr als 76.000 Juden aber, die aus Frankreich abtransportiert wurden, entgingen nur etwa 2300 der Vernichtung, die ihnen vom Rassenwahn der Nazis bestimmt worden war.

Es hat in Frankreich lange gedauert, bis dieses kollektive Trauma, dessen ganze Dimension diese nüchternen Zahlen kaum erahnen lassen, wahrgenommen wurde. Das hat viele Gründe, und einer der wichtigsten ist, dass die Überlebenden zunächst schwiegen.

Erinnerungen an die Schreckenszeit

Nach und nach sind sie seit Ende April 1945 wieder nach Frankreich zurückgekehrt, viele erst nach einer langen Odyssee durch Russland, zu Schiff über das Schwarze Meer und das Mittelmeer. Joseph Bialot, einer aus diesem letzten "express fantôme", ist sogar erst jetzt aus seinem Schweigen herausgetreten und hat seine Erinnerungen an diese Schreckenszeit und seine Rückkehr ins Leben zu Papier gebracht: "C'est en hiver que les jours rallongent" (Le Seuil).

Bialots ergreifende Schilderung ist eine von vielen Erinnerungen, die dieser Tage in Frankreich in Zeitungen, Magazinen und in zahllosen Fernsehsendungen aus Anlass des 60. Jahrestags der Befreiung von Auschwitz dokumentiert werden.

Fast hat es den Anschein, als würde man sich hier erst jetzt des ganzen Ausmaßes von Deportation und Vernichtung bewusst. Die Feststellung wäre gewiss übertrieben, aber sie ist auch nicht so ganz falsch, denn im öffentlichen Gedenken in Frankreich stand lange nur die Erinnerung an die Deportierten insgesamt im Vordergrund, die man nicht nach Résistants und Juden unterschied.

Das verdunkelte lange die Wahrnehmung des Holocaust, versperrte die Einsicht in die mit bürokratischer Akribie betriebene und mit industriellen Methoden umgesetzte massenhafte Vernichtung von Menschen, deren Ausrottung sich eine Rassenideologie zum Ziel gesetzt hatte.

Der zweite Kreis der Hölle

Ein bekanntes Beispiel für diese Wahrnehmungssperre ist der Film von Alain Resnais "Nuit et brouillard", der 1955 in die Kinos kam und der erstmals einem breiten französischen Publikum die Schrecken der Konzentrationslager anschaulich machte.

Aber die Barbarei, die dieser Film dokumentiert, ist die des "gewöhnlichen" Schreckens, der in den Lagern von allen erlebt wurde, zeigt die mannigfachen Quälereien und Erniedrigungen, verschweigt indes aber völlig, dass es in dieser Hölle noch einen zweiten Kreis gab, jenen, in dem die systematische Vernichtung der Juden betrieben wurde.

Eine umfassende Aufklärung über diesen Höllenkreis setzte in Frankreich erst 1985 ein, als Claude Lanzmann seinen neunstündigen Dokumentarfilm "Shoah" herausbrachte, in dem Überlebende des Holocaust von den von ihnen durchlittenen Schrecken vor der Kamera Zeugnis ablegten.

Dieser Film, der ein Monument historischer Aufklärung über ein Geschehen ist, das sich seiner Vergegenwärtigung in Bildern verweigert und gegen den sich das Begreifen sperrt, hat das französische Fernsehen ( FR3) nun in ganzer Länge gesendet. Das war gewissermaßen eine Premiere, denn bei seiner ersten Ausstrahlung im französischen Fernsehen ( TF1) 1987 wurde der Film in vier Teilen im Spätprogramm an vier aufeinander folgenden Abenden gezeigt.

Diese integrale Fassung von "Shoah" bildete aber nur den Auftakt zu einer Reihe von 28 Filmen, Dokumentationen und Diskussionen, die während der vergangenen Woche von französischen Fernsehsendern sowie dem deutsch-französischen Kulturkanal Arte aus Anlass des 60. Jahrestags der Befreiung von Auschwitz durch die "Rote Armee" am 27. Januar 1945 gezeigt wurde.

Mahnmal im Marais

Am Dienstag weiht Staatspräsident Jacques Chirac im Marais, dem traditionellen jüdischen Wohn- und Geschäftsviertel von Paris, das erweiterte Holocaust-Museum ein, für dessen Wiedereröffnung auch ein neues Mahnmal errichtet wurde: In meterhohe Marmorwände wurde die schier endlose Reihe der Namen jener annähernd 76.000 Juden eingraviert, die während der deutschen Besetzung Frankreichs bis zum August des Jahres 1944 zu ihrer Vernichtung in den Osten deportiert wurden.

Die Bedeutung dieses Mahnmals vor dem Eingang des nun größten europäischen Holocaust-Museums hat die erste Präsidentin des Europäischen Parlaments, Simone Veil, die einzige aus ihrer Familie, die Auschwitz überlebte, in einem Satz beschrieben: "Die Mauer mit den Namen wird den Opfern der Shoah eine Parzelle der ihnen geraubten Identität zurückgeben."

Joseph Bialot, dessen Name wie der der anderen wenigen Glücklichen, die ihrer Vernichtung entgingen, auf diesen Wänden eingraviert steht, erlangte seine Identität wieder, indem er seine Erinnerungen zu Papier brachte. Das war ein langer Weg zu sich selbst, der im Mai 1945 begann, als er an der Gare de Lyon eintraf und mit der Métro zu seiner Wohnung fuhr.

© SZ vom 25.1.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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