Fotoausstellung:Hank Willis Thomas und Emily Shur

Lesezeit: 2 min

(Foto: International Center of Photography)

Von Sonja Zekri

Nach 140 Ausstellungen und 221 Billboards von 715 Künstlern in 50 Staaten fällt der Blick erst mal auf den Truthahn. Immerhin: auf einen kunsthistorisch bedeutenden Truthahn, das Geflügel auf dem Tisch in Norman Rockwells Gemälde "Freedom from Want" aus dem Jahr 1943 und seiner Neuinterpretation durch Hank Willis Thomas und Emily Shur von 2018. Hier wie dort hat sich eine erwartungsvolle (hungrige?) Thanksgiving-Familie um Tisch und Truthahn versammelt, der Braten ist riesig, knusprig und liegt auf einem Gemüsebett. Wer an dieser Tafel sitzen darf, wird in den Genuss amerikanischer Kulinarik und amerikanischen Wohlstandes kommen. Wer also darf hier sitzen?

In Norman Rockwells "Freedom from Want", einem von vier Werken, für die sich der Künstler von Präsident Franklin D. Roosevelts Rede über die vier Freiheiten 1941 inspirieren ließ, sind - bis auf den Truthahn - alle entscheidenden Bildelemente weiß: Geschirr, Tischtuch, Gardinen und natürlich auch die Personen. In Thomas' und Shurs Fotografie bietet ein Mann den Braten einer Gemeinschaft dar, zu der Schwarze, Asiaten, Latinos gehören.

Das Bild gehört zu einer Serie von Arbeiten in der Ausstellung "For Freedom: Where do we go from here" im New Yorker International Center of Photography ICP, in denen Thomas und Shur die vier Freiheitsmotive Norman Rockwells ein wenig näher an den amerikanischen Alltag heranführen. Auf ihren Bildern zum Thema "Freiheit von Angst", beugt sich nun wahlweise ein Afroamerikaner über sein schlafendes Kind oder zwei Schwule. Die "Freiheit des Glaubens" genießen mit gefalteten oder sonst wie verschränkten Händen und in die Ferne gerichtetem Blick Musliminnen, Hindus und amerikanische Ureinwohner.

"For Freedom: Where do we go from here" war eine Reaktion auf Donald Trump und wurde, so schreibt das ICP, die umfassendste Zusammenarbeit von Künstlern in den Vereinigten Staaten. Wenn das Zentrum noch bis zum 28. April die Rockwell-Interpretationen zeigt, dann sind diese nur ein kleiner Teil der Dokumentation dieser staatenübergreifenden Aktion. Vor allem die Fotos der Billboards erinnern an den Kampagnencharakter der Werke mit Slogans wie "All Lies Matter", also: "Alle Lügen zählen", statt "All Lives Matter", alle Leben zählen. Manche Plakate greifen nach den Sternen, zeigen den Himmel mit dem Verweis "Sie sehen alle gleich aus". Arabische Wörter beschwören humane Gemeinsamkeit - "insan" (Mensch) - oder Liebe: "ana ahibak" (ich liebe dich).

Die Dichte der Werke variiert je nach Bundesstaat, wie eine Karte zeigt. Während sich an der West- und an der Ostküste die Billboards und Initiativen ballen, gab es in Arizona oder Nevada jeweils gerade eine Plakatwand und eine Ausstellung. Kehrt man allerdings nach so viel Diversität, Toleranz und Pluralismus zurück zum Truthahn, stellt sich ein eigenartiger Effekt ein. Die Afroamerikaner, Asiaten und Muslime auf den "Freedom"-Fotografien mögen zwar zeitgemäßer sein als Norman Rockwells exklusiv weißes Personal, aber sie zeigen denselben weggetretenen Ausdruck, dasselbe gefrorene Lächeln, als wäre Freiheit die Belohnung für eine überstandene Gehirnwäsche. Im Grunde wirken sie genauso isoliert wie die Rockwell-Arrangements, nur gehören ihr diesmal nicht die Weißen an, sondern ganz Amerika.

© SZ vom 06.04.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite
Jetzt entdecken

Gutscheine: