Fortsetzung:Das RAF-Fahndungsplakat

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Nur kam es anders, als die Staatsgewalt wollte. Der Steckbrief, dieses komische Zitat, war eine Auszeichnung: Heilige sehen dich an! Wer den Terror angeschaut mit Augen, wer die jahrzehntelange Repressionsschule durchlaufen hatte, sah auf den Fahndungsplakaten nicht diese unbekannten Leute, sondern eine alte Geschichte, die eigene. Die Köpfe im gerasterten Geviert, einsortiert so gründlich wie Bügelverschlussflaschen in einem Biertragl, waren schon jetzt Märtyrer, wohlvertraut aus dem Schatz von aberhundert Heiligenlegenden, über den ich damals noch zitiersicher gebot.

Zum Glück haben die Amis unser Unterbewusstsein kolonialisiert. Bob Dylan hat gewonnen und nicht Holger Meins. (Foto: Archiv)

Die zur Fahndung ausgeschriebenen Terroristen unterschieden sich nicht groß von den honigsüßen Fleißbildchen, die es in meiner katholischen Kindheit in der Kommunionsvorbereitungszeit für folgsames Auswendiglernen und frühe Lateinleiereien gab. Diese Bösen waren auf der Flucht, gejagt, sie waren unterwegs für eine Sache, die gewiss heroisch war, denn wie sonst wären sie zur Ehre dieses Verbrecherplakats gelangt?

"Ihr habt doch alle das Ziel, Heilige zu werden", hatte uns der Religionslehrer eines schönen Morgens exhortativ gefragt. Damals begann der Tag noch mit "Cum Deo!" im Rechenheft und klang mindestens so gottesfürchtig wieder aus. Widerspruch war zwecklos, und für eine Stunde beugten sich auch die schlimmsten Strolche in der Klasse diesem strengen Gebot. (Und die Lauen schließlich, die nicht wussten, ob oder ob nicht oder vielleicht doch, die wollte der Herr ja sowieso ausspeien aus seinem Munde.) Die Heiligen waren Helden, waren Missionare, die den Glauben nach Indien und sogar bis Japan trugen, in Mexiko die herzausreißenden Azteken bekämpften und von den ungläubigen, widerborstigen Indios im Gran Chaco mit Curare grausam gefoltert und zu Tode gebracht wurden. Der Terrorismus, das wusste ich, aber längst nicht jede Tankstelle und jede Amtsstube, der Terrorismus war eine streng katholische Angelegenheit.

Die auf dem Bild eingekastelten Terroristen waren nicht wie wir, sondern was Besseres. Sie befanden sich, sagten sie, im Krieg. Von diesem Krieg merkte man zum Glück nichts, aber sie meinten es Ernst, sie wollten Heilige werden. Und sie wiederholten die strenge Supposition des Religionslehrers, dass auch wir vor dem Bild ihrem Muster nachfolgen sollten. Die Frage, die alles entscheidende, lautete diesmal: Bist du ein Teil der Lösung oder ein Teil des Problems?

Ort der Handlung war nämlich Deutschland. Deutsch sein, das hieß wieder einmal, eine Sache um ihrer selbst willen tun, und deutscher als bei den Terroristen ging es wirklich nicht mehr. Er sei, hieß es von Holger Meins, seinen Weg konsequent zu Ende gegangen. Holger Meins hungerte sich um sein Leben und lag dann, zum dostojewski'schen Bettelmönch abgemagert, wie ein Heiliger auf dem Sterbebett. Sein Vorwurf nochmal, die dringende, die alles entscheidende Frage: Bist du ein Teil der Lösung oder ein Teil des Problems? Oder wie er in seinen letzten Kassibern formulierte: Mensch oder Schwein, sonst nix.

Schweine waren wir, weil wir nicht mitmachten, nur starrten auf diese Plakate, manchmal nur mit roten Streifen gerändelt, manchmal stilsicher blutrot gerahmt, gern auch das eine oder andere Gesicht von Amts wegen ausgestempelt mit dem Vermerk ERLEDIGT. Dann war einer verhaftet worden oder erschossen.

Nach der gescheiterten Entführung der "Landshut" brachten sich in Stammheim Andreas Baader, Gudrun Ensslin und Jan-Carl Raspe um. Die Überlebenden beschlossen, dass die draußen (wir) die Legende vom Mord brauchten wie das himmlische Manna, und so wurde einer gläubigen Öffentlichkeit dargelegt, dass der böse Staat sie gemordet habe. Das Problem löste sich in einer einverständigen Heiligsprechung: für den Staat waren sie endlich weg, für die Jünger und Hinterbliebenen Märtyrer und zur Ehre der Altäre erhoben. Das waren die siebziger Jahre. Furchtbar manichäisch alles, noch schlimmer: katholisch.

Erlösung kam, und sie war so unwahrscheinlich wie ein Märchen. Zwei Männer fahren in einem Lastwagen an der Zonengrenze entlang und reden irgendwelchem Männer-ohne-Frauen-Schwulst. Aber kein Wort fällt über Deutschland, nichts Existenzialistisches sonst, nur diese Bilder, schwarzweiß, der Rhein, der Main, die Spätsommerlandschaft in Franken und Hessen und Niedersachsen.

Ein Film von Wim Wenders, "Im Lauf der Zeit", das Versöhnungswerk Deutschland. Die Zeit, die überhaupt nicht vergehen wollte, die so gleichförmig starrte, mit einem Mal bewegte sie sich doch. Mit einer BMW, dieser alten Kriegsmaschine (Quandt! Goebbels!), fahren die beiden Landstörzer an den Rhein, fahren durch Ernteland und Sommerhitze, es regnet zwischendurch, und manchmal hört man doch die Slidegitarre statt des Saxofons: Ein deutscher Heimatfilm.

"Der Tod ist keine Lösung", sagt Fritz Lang als Fritz Lang in Godards "Le Mépris". Wim Wenders zeigt ein Bild des Schauspielers Lang aus diesem Film in seinem, und er zeigt es an einer quälend langgezogenen Stelle, als Marquard Bohm um seine Frau trauert, die sich an einem Baum totgefahren hat. Die Szene ist als Amerikanische Nacht gefilmt, aber über das menschen- und gottverlassene Zonenrandgebiet treiben die deutschen Augustwolken von 1975, erheben es zum Monument Valley, und dazu rauscht die Musik von Improved Sound Limited auf. Der Tod ist keine Lösung, und es gibt ein Leben davor.

Die Zeit vergeht nicht in diesem Film, die Zeit vergeht. Die Bilder laufen nicht, sie bleiben. Es ist alles, wie es nie war, ein Märchen aus uralten Zeiten. Glocken läuten sogar, aber sie läuten nicht deutsch, sondern wie in "Sunday Afternoon" von den Small Faces. Selbst der Terrorismus ist da in diesem überzeitlichen, überirdischen Film. "Pass auf, gleich wirst du erschossen", ruft Rüdiger Vogler Hanns Zischler nach, der ins Grenzerhäuschen strebt. Schüsse hört man auch, kaum von den NVA-Grenzern, eher von einer Jagd, und in diesem Film sind die Schüsse das ferne Hundegebell Eichendorffs, nur dass Eichendorff hier von Bob Dylan gespielt wird.

Einmal steht Hanns Zischler neben einem Feldrainkruzifix, von dem nur der Korpus an einer Stange übriggeblieben ist. Zischler posiert James-Dean- mäßig daneben und zitiert, wenn nicht die Heilige Schrift, so doch einen besonders heiligen Text: "I been double-crossed now for the very last time and now I'm finally free." Bob Dylan singt das in "Idiot Wind", und es war die erste Botschaft, die dem erlösungsbedürftigen deutschen Katholiken eine Lösung zeigte. Die im Gefängnis, im Untergrund, auf dem Steckbrief wussten leider nichts davon. Sie hätten viel lernen können.

"Die Amis haben unser Unterbewusstsein kolonialisiert", sagt Zischler, und sie haben uns gerettet. Wir müssen keine Heiligen mehr werden. Der fürchterliche Dezisionismus (der den Terrorismus für den betonharten Carlschmittianer so reizvoll macht) hatte wenigstens für mich ein Ende: Mensch oder Schwein: Problem oder Lösung: das waren Indianersprüche, Runenzeichen, zu simpel für die moderne Welt. Ob Gewalt und Sinnlosigkeit nicht ein und dasselbe seien, zitierte Peter Handke 1975 als Motto für seine Erzählung "Die Stunde der wahren Empfindung" den reaktionären Horkheimer. Und hatten sie nicht dreimal Recht?

Dafür oder dagegen, das war keine Alternative, sondern ein auferlegter Zwang, eine Bubengeschichte, Schulhof, Klassenbuch, Pausensemmel. Indianerei, aber doch bitte nichts für den erwachsenen Menschen.

Alle Heiligen vom Fahndungsplakat sind tot. Kein jugendirres Gemüt ließe sich heute mehr von dem rotgefassten Raster verwirren. Rüdiger Vogler sieht man noch gelegentlich in irgendwelchen unscheinbaren Rollen im Fernsehen, Hanns Zischler, der damals gar kein Schauspieler sein wollte, um so mehr. Und Wim Wenders? Wim Wenders macht das, was ihm Herbert Achternbusch vor zwanzig Jahren in seiner "Rede an meine deutschen Filmbrüder" anempfohlen hatte, er spielt Modelleisenbahn, inszeniert Werbefilme für die Bundesbahn. Und dreht, damit das Grauen endlich einen Namen habe, in seiner Freizeit einen Film über die Kölsch-Rocker BAP. (Er hat seinen eigenen Film, hat "Im Lauf der Zeit" nicht verstanden.)

Warum nur hat mich Austs Erzählung aus der finstersten Bundesrepublik so geängstigt? "Es muss alles anders werden", schreibt Hanns Zischler auf den Zettel, mit dem er sich von Rüdiger Vogler verabschiedet. Der Tod ist keine Lösung, und das Problem ist doch längst keines mehr. Oder doch, ein bisschen vielleicht? "In der Treue zur Idee, dass, wie es ist, nicht das letzte sein solle", schreibt Adorno zehn Jahre vor dem Tod von Holger Meins, "nicht in den hoffnungslosen Versuchen, festzustellen, was das Deutsche nun einmal sei, ist der Sinn zu vermuten, den dieser Begriff der deutschen Tiefe] noch zu behaupten vermag: im Übergang zur Menschheit." Adorno hat das - unglaublich, aber wahr - für die FDP-Zeitschrift liberal geschrieben. Wie es ist, muss es nicht bleiben.

Und so ist am Ende doch alles, alles gut gegangen. Die erstarrten Siebziger sind längst versunken. Die Bundesrepublik hat auch ohne Angela Merkel den Übergang zur Menschheit geschafft. Kein Terrorismus mehr, kein Fahndungsplakat. Friedlich liegt das Land. Langsam schwenkt die Kamera drüber hin. Aus dem Off die Musik der fränkischen Countryband Improved Sound Limited.

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