Filmfestival Venedig:Kinder der Liebe

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Von Al Pacino als Herzstück im "Merchant of Venice" bis zur Erlösung durch obsessionelle Liebe - Filme von Michael Radford, Todd Solondz, Kim Ki-duk.

Von Rainer Gansera

Nicole Kidman hat am Lido angelegt, wurde beim Shopping in den Gassen Venedigs gesichtet, und die Paparazzi jagen dem offenkundigem Objekt der Begierde nach... Aber erst mal reden alle vom Organisationschaos: der Computer verkauft Tickets für eine Galaprojektion zweimal und stürzt dann einfach ab, der Beginn mancher Vorstellungen verspätet sich bis zu zwei Stunden, was selbst bei den improvisationsfreudigen Italienern zu argen Verstimmungen führt.

Die Seele des Films - wie könnte es auch anders sein - bei Shakespeares Kaufmann von Venedig. (Foto: Foto: AP)

Aber das sind wohl Startschwierigkeiten, für die sich Festivalchef Marco Müller entschuldigte und die er wohl mit der Zeit in den Griff bekommen dürfte. Problematischer sind die qualitativen Fehlgriffe: wenn im Wettbewerb ein Film auftaucht, der dort partout nicht hingehört, während sich gelungene Werke wie zum Beispiel "Un mundo menos peor" des Argentiniers Alejandro Agresti - der von einer anrührenden Vatersuche erzählt, die sich mit den Traumata der jüngsten argentinischen Geschichte verknüpft - in den Nebenreihen tummeln müssen.

Zuerst: Buhrufe

Die Rede ist hier vom ersten italienischen Wettbewerbsbeitrag, Michele Placidos "Ovunque sei", der in einem Gewitter aus Buhs und Pfiffen unterging. Nun ist das Publikum auch ein bösartiges Tier und hat nicht immer recht - in diesem Fall aber lässt sich der Film nicht verteidigen.

Placido - als Kommissar Cattani in der TV-Serie "Allein gegen die Mafia" berühmt geworden - will vom Ende einer Ehe erzählen, vom versuchten Neubeginn des Liebeslebens nach einem schicksalshaften Unfall, aber er tut das in derart hohl dröhnender Möchtegern-Poesie und gespreizter Gefühlsexzentrik, bis die ganze Geschichte in Platitüden verendet.

Unvermeidlich schießen nach solch einem Desaster Spekulationen ins Kraut, ob der Festivaldirektor, dessen ästhetisches Urteil eigentlich verlässlich ist, sich hier Diktaten von Verleihfirmen oder Branchenverbänden fügen musste.

Dann: Herzlicher Beifall

Mit herzlichem und verdientem Beifall wurde dagegen die außer Konkurrenz startende Shakespeare-Verfilmung "The Merchant of Venice" von Michael Radford aufgenommen.

Ausgiebig, schwelgerisch nutzt der britische Regisseur die Originalkulissen Venedigs, die mühelos das 15. Jahrhundert herbeizitieren - was ihm sozusagen einen Heimvorteil verschafft. Seele des Films ist, wie könnte es anders sein, Al Pacino in der Titelrolle: Er temperiert geschickt seine Actors-Studio-Expressivität, um - nach verhaltenem Beginn - mächtig augenrollend die Höhepunkte der dramatischen Tiraden auszukosten.

Wenn er seine Anklage gegen die christliche Gesellschaft - die ihn, den jüdischen Kaufmann und Geldverleiher, opportun benutzt und zugleich mit Verachtung bestraft - hinausschreit, entlockt er Shakespeares Versen alle ihnen innewohnende Wucht.

Brechtische Verfremdung

Welten trennen die kulinarische Klassiker-Verfilmung vom raffiniert gebrochenen Gestus, mit dem Independent-Ikone Todd Solondz seinen Wettbewerbsfilm "Palindromes" in Szene setzt. Die Mechanismen der Identifikation werden bei Solondz brechtisch verfremdet, woraus aber kein intellektuelles Experiment resultiert, sondern ein theatralisch-verspielter, magischer Figuren-Zauber.

Die zwölfjährige Aviva will unbedingt Mama werden: "Ich möchte so viele Babies wie möglich haben, damit immer jemand da ist, den ich lieben kann!" Sie tut alles, um ihren Plan zu verwirklichen, wird schwanger, folgt heftig widerstrebend der Mutter (Ellen Barkin), die sie zu einer Abtreibung überredet, flieht von zuhause, landet in einer christlich-fundamentalistischen Großfamilie, die ihr genauso zur Hölle wird wie das Elternhaus...

Nein, man kann die Story nicht so simpel nacherzählen, denn "Palindromes" ist reinstes modernes Kino - die mise-en-scène ist ihr Gehalt, und also muss man von deren Reichtum und Witz, ihrem tragischen Ernst und ihrer Unschulds-Poesie sprechen. In den acht Kapiteln wird die Heldin von acht verschiedenen Darstellerinnen gespielt, was erst mal aufgesetzt wirkt, sich aber zum reichhaltigen Spiel entfaltet. Solondz nähert sich den Tabuzonen seines Sujets (Abtreibung, Pädophilie) mit einer waghalsigen karnevalesken Geste, die doch immer von Zärtlichkeit durchpulst ist.

Erlösung durch obsessionelle Liebe ist wieder einmal das Thema des Koreaners Kim Ki-duk, der im Wettbewerbsbeitrag "Binjip (3-Iron)" eine seiner mysteriös-strengen amour-fou-Stories zelebriert. So souverän und spannend er das auch beherrscht, es durchweht diese Geschichte von zwei einsamen, schönen, geknechteten und wortlos bleibenden Seelen, die sich aneinander aufrichten, doch eine Aura kalter Berechnung.

Richtig spekulativ verlogen erscheint Amos Gitais Wettbewerbsfilm "Promised Land". Junge Frauen aus Osteuropa werden von einem Mädchenhändlerring aus der Wüste Sinai nach Israel eingeschleust, misshandelt, vergewaltigt, versteigert. Gitai spekuliert auf die voyeuristischen Verheißungen des Sujets, und bedient sie auch ausführlich, hängt sich aber das Mäntelchen des Anklägers um, der vorgibt, diese moderne Sklaverei anzuprangern.

Ein unerfreulicher Film - ihn skandalös zu nennen, wäre zuviel der Aufregung. Die Hoffnungen auf einen veritablen Skandalfilm werden in der Presse freilich kräftig geschürt. In Jonathan Glazers "Birth" soll es eine, von der US-Zensurbehörde bereits beanstandete Badezimmerszene geben: Nicole Kidman und ein halbnackter zehnjähriger Junge, der behauptet, die Reinkarnationen ihres verstorbenen Ehemannes zu sein... Klein-Ödipus an der Mostra?

© SZ vom 8.9.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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