Filmfestival in Venedig:Die Mutter der Parteitage

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Von Feelgood-Konzepten, subversivem Kino und Paukenschlägen zu Beginn der Lido-Festivitäten: Filme von Oscar-Gewinner Jonathan Demme, François Ozon und Edgar Reitz.

Von Rainer Gansera

Schnell hat der Ärger sich wieder verflüchtigt über die Verzögerungen bei der Eröffnungsgala - ein falscher Bombenalarm im Excelsior, Aktionen der Globalisierungsgegner...

Das Team für die Schattenzonen: Regisseur Jonathan Demme, Denzel Washington, Meryl Streep und Liv Schreiber ("The Manchurian Candidate"). (Foto: Foto: AP)

Steven Spielberg und Tom Hanks halten eine muntere Pressekonferenz zu "The Terminal" ab. Hanks: der ewige Peter Pan, ein kleiner Junge, der spielen will. Spielberg: Musterschüler des New American Cinema, der einige Merksätze bietet: "Ich will Geschichten erzählen, die mich überraschen, bewegen, verändern. Ich wollte einen Film machen, der die Zuschauer weinen und lachen lässt, und ihnen ein gutes Gefühl von der Welt vermittelt".

Stärker als von derartigen Feelgood-Konzepten wird man in der Lagunenstadt fasziniert vom Abgründigen, und so taucht man gern in die Schattenzonen von Jonathan Demmes Polit-Psycho-Thriller "The Manchurian Candidate" ein, der die Paranoia von John Frankenheimers gleichnamigem Klassiker von 1962 in heutige, spannungsreich flirrende Angstbilder übersetzt. Bei Frankenheimer war die böse Weltverschwörung kommunistisch, jetzt wird sie von einem Riesenkonzern angezettelt, der seinen Politiker-Marionetten Chips unter die Haut pflanzt.

Die Leichtigkeit des Demme

Der "Schweigen der Lämmer"-Regisseur Demme findet wieder zur Leichtigkeit seiner frühen Filme, mit der er Paranoia-Thrill aus der kleinsten Geste hervorzaubert. Da genügt das maskenhafte Androiden-Lächeln des künftigen Vizepräsidenten der USA und, beängstigender noch, der erhobene Zeigefinger seiner karrieregeilen Mutter (großartig: Meryl Streep), die darauf besteht, dass auch in der schönen, neuen Welt der Ödipuskomplex seine Wirksamkeit behalten soll. Ein Film, den manche für subversiver und politisch aufregender halten als Michael Moores "9/11".

Von solch schwergewichtigen Problemen lässt sich die hiesige Boulevard-Presse nicht aus der Routine werfen. Sie fragt sich besorgt, ob Nicole Kidman (sie präsentiert Jonathan Glazers "Birth") wiederum mit 41 Koffern am Lido anlegen wird, und vor allem, ob sie Tom Cruise, ihrem Ex, dabei über den Weg laufen sollte (der Michael Manns "Collateral" vorstellt).

Der erste Wettbewerbsfilm, François Ozons "5x2" - gleich ein Paukenschlag, ein Meisterwerk. Nach der exaltierten Hommage an die magischen "8 Frauen" und seinem raffinierten Krimi "Swimming Pool" demonstriert Ozon hier, welche Souveränität er nun gewonnen hat, welch elektrisierende Präzision er mit zwei grandiosen Darstellern wie Valeria Bruni Tedeschi und Stéphane Freiss in Szene setzen kann.

Fünf Kapitel aus der Geschichte eines Paares, vom Ende her erzählt, beginnend mit dem Scheidungsanwalt, endend mit der ersten Begegnung am Strand, inklusive Sonnenuntergang... Unendlich traurig, umwerfend schön und wahrhaftig. Traurig, weil Cocteaus maliziöse Definition der Liebe - "Liebe ist das, wo immer einer leidet und der andere sich langweilt." - bewiesen wird, aber ohne Zynismus, ohne Ironie, mit einer gestischen Evidenz, wie sie nur das französische Kino hinkriegt: schwereloser Tanz und unerbittliche Wahrheit.

Valeria Bruni-Tedeschi in Ozons Film "5x2". (Foto: Foto: Jean-Claude Moireau/Francois Ozon)

Ozon kann uns Blicke vorführen, denen man jeden Funken der Leidenschaft uneingeschränkt glaubt, und Berührungen, die alle Schattierungen des Begehrens fühlbar machen. Um so grausamer, wenn dann dort, wo Zartheit und vertrautes Geflüster war, das Szenario der Desillusionierungen in jeder Nuance durchgespielt wird: Eifersucht, Konkurrenz, Aversionen, Gleichgültigkeit.

Heimat als Holzschnitt

Im Vergleich zu dieser Kunst der emotionalen Ziselierung erscheint die mise-en-scène bei Edgar Reitz holzschnittartig, postkartenbunt, pathetisch, sentimental - was ja auch seinen Charme haben kann, und bei Reitz auch hat. Auch bei ihm geht es um die Wendung von der Euphorie zur Desillusionierung, von den gemeinsamen Hoffnungen zu den einsamen Traurigkeiten.

Allerdings im größeren Zusammenhang einer deutschen Geschichtschronik: Von den hochgespannten Glückserwartungen beim Fall der Mauer zu heutigen Katerstimmungen handelt der abschließende dritte Teil seines monumentalen "Heimat"-Triptychons, der sechs Filme umfasst, am Lido seine Welturaufführung erlebt - wie die zwei "Heimat"-Zyklen zuvor - und in der Sala Grande mit "Das glücklichste Volk der Welt" und "Die Weltmeister" startete.

Wechselbäder der Gefühle

Der Beifall war groß und herzlich, Edgar Reitz zählt zu den guten alten Bekannten am Lido. Auch im neuen Festivaldirektor Marco Müller hat er einen glühenden Verehrer, der "Heimat 3" als den "wichtigsten europäischen Film des Jahres" pries. Reitz-Filme waren immer schon Wechselbäder der Gefühle, auch jetzt gibt es wieder Anrührendes, Erhellendes, Überzeugendes - wenn etwa die West-Frau den Vers "Auferstanden aus Ruinen" aus der DDR-Hymne lobt und der Ost-Handwerker darauf entgegnet, dass ihm die andere Hymne mit "Deutschland, Deutschland über alles" besser gefalle -, aber zugleich geraten seine Anrufungen der Bodenständigkeit immer wieder ins Seichte einer betulichen Edelfolklore.

Jedenfalls bekommt man nach 200 Minuten Heimat-Reitz unbedingt Lust, in einen der kleinen schmutzigen B-Pictures der Retro zu gehen, zum Beispiel in Fernando Di Leos "La mala ordina" von 1972, wo der schnauzbärtige Mario Adorf den kleinganovigen Chef eines Mailänder Prostituiertenrings mimt. Nicht gerade ein Jahrhundertwerk, doch auch ein epochal vielschichtiges Zeitbild.

© SZ vom 3.9.2004 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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