Festspielpremiere in Salzburg:Russisch Brot, in Aspik eingelegt

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Andrea Breth macht sich in ihrer Adaption von Dostojewskijs "Verbrechen und Strafe" die Sicht des Mörders zu eigen - was sich als schweres Hemmnis erweist.

Ch. Schmidt

"Es war, als wäre er mit einem Zipfel seines Rockes in das Rad einer Maschine geraten und mitgerissen worden", heißt es im ersten Buch von Dostojewskijs Roman "Verbrechen und Strafe" über den Studenten Raskolnikow. Auf der Bühne des Salzburger Landestheaters lässt der Schauspieler Jens Harzer, gebannt in den Wiederholungszwang, wieder und wieder das Beil niedersausen und zerteilt doch nur die Luft, als wäre er eine Figur in einer mechanischen Menagerie.

Nicht einen Menschen habe er erschlagen, sondern das Prinzip des Materialismus: Jens Harzer als Mörder Raskolnikow (Foto: Foto: AP)

Die Regisseurin Andrea Breth hat in ihrer Bühnenadaption des Romans ebenfalls wie mit einer Axt die Kausalkette durchtrennt, Ursache und Wirkung aufgespalten. Auf der einen Seite der Bühne sehen wir den Mörder Raskolnikow bei seiner unblutigen Bluttat, eingefasst von einem erleuchteten Türrahmen, auf der anderen Seite tropft das Blut des Opfers, einer alten Pfandleiherin, aus einer Wunde am Kopf in einen Blechnapf.

Dialektik statt Leben

Zwei Bilder, die scheinbar nichts und doch alles miteinander zu tun haben. Indem Breth die Untat von ihren Folgen abschneidet, macht sie sich von vornherein die Perspektive des Täters zueigen, schildert das Geschehen aus seiner, halluzinierend verschobenen Sicht - und diese Identifikation mit dem Protagonisten sollte sich als schweres Hemmnis dieses fast fünfstündigen und streckenweise privatistisch wirkenden Theaterabends erweisen, der die diesjährigen Salzburger Festspiele eröffnete.

Nicht einen Menschen habe er erschlagen, sagt Raskolnikow über sein Verbrechen, sondern ein Prinzip. Dieses Prinzip ist das des Materialismus, verkörpert von der Pfandleiherin, und als geschulter Materialist meint der verarmte Studienabbrecher und zerquälte Gewalt-Philosoph Raskolnikow, den Teufel mit dem Beelzebub austreiben zu können.

Erst 400 Seiten später, geläutert durch Geständnis, sibirische Zwangsarbeit und die Kraft der Liebe, lässt das Gefühl die Ratio dahinschmelzen, und "anstelle der Dialektik begann das Leben". Dem Erlösungspathos misstraut die skeptische Menschenprüferin Andrea Breth allerdings genauso, wie sie die ideelle Konstruktion des Romans in Frage stellt.

Bei ihr wiederholt sich im Schlussbild eine frühere Szene des Abends, in welcher Raskolnikow manisch das Wasser aus einem Zinkeimer in den nächsten umfüllt und von diesem in einen dritten, um wieder zum ersten zurückzukehren - ein verrückt gewordener Hütchenspieler, der nur noch sich selbst narrt. Es ist, als wolle er zwanghaft nachmessen, ob sich das Element des Lebens verlustfrei von einem Gefäß in das andere gießen lässt, und dabei wird der Gedanke einer spirituellen Wiedergeburt zu einer fixen Idee.

Bei Breth ist die Passionsgeschichte dieser Märtyrerfigur Raskolnikow wirklich ein Leidensweg, nämlich: auswegloses Leiden. Damit legt sie den Finger auf die Schwäche von Dostojewskijs Position, die mit zu vielen verschiedenen Beweggründen aufwartet, um den Mord zu motivieren.

Da ist das Elend, unter dem er selbst leidet und das seine Schwester fast in eine Versorgungsehe treibt, die moralische Verkommenheit des Opfers, die kalte Großstadt, in der die Not leidenden Menschen der Trunksucht verfallen oder sich gleich das Leben nehmen, die allgemeine Entfremdung unter den Bedingungen des Frühkapitalismus, überhöht alles durch eine synkretistische Philosophie, in der romantischer Genie- und Napoleonkult, der Glauben an den Ausnahmemenschen, für den keine moralischen Grenzen gelten, sich vermischt mit falsch verstandenem Utilitarismus und einem halbverdauten heroischen Dezisionismus.

20 Jahre vor Nietzsches "Zarathustra" nimmt Dostojewskij einige seiner schwarzen Glaubenssätze vorweg: dass der Mensch nur besser werden könne, wenn er böser werde und sich als dasjenige Wesen definiere, "was sich immer selber überwinden muss".

Andrea Breth entrümpelt den Stoff, indem sie das überdeterminierte Motivgeflecht wegschneidet. Sie nimmt das Verbrechen als Setzung, als acte graduit, um sich ganz auf die Subjektivität des Schmerzes zu konzentrieren. Das ist nachvollziehbar, aber hat zur Folge, dass ihre Inszenierung sich über die glänzend geführte Handlungslogik dieser philosophisch überhöhten Kriminalgeschichte hinwegsetzt.

Ohne dieses tragende Gerüst zerfällt der Abend wie ein entkernter Altbau in lauter Spolien, surreale Bilder ohne Zusammenhang, die in ihrer morbiden Opulenz anmuten, als habe die Regisseurin die Lesefrüchte einer sehr privaten Lektüre in Aspik eingelegt.

Der zarte Gazevorhang, der jedes Bild ins Epische, Flächige zerfließen lässt, wird dabei zu einer Milchglasscheibe, hinter der schattenhafte Gestalten tanzen, die kaum Plastizität gewinnen. Das sich in dieser Séance ausgesperrt fühlende Publikum streckte denn auch bald ermattet die Waffen. Dabei bietet sich der Roman wie wenige für die Bühne an, tatsächlich gehört er zu den am häufigsten dramatisierten. Vladimir Nabokov spottete, Dostojewskij hätte der bedeutendste russische Dramatiker werden können, wenn er sich nicht im Genre vergriffen hätte.

Nabokov spielte damit an auf die sinnliche Armut von "Verbrechen und Strafe", in dem es so wenig Empirie gibt, dass jeder dürre Strauch wirkt, als habe ihn ein Bühnenarbeiter rasch irgendwo hingestellt. Immer beeilt sich Dostojewskij, seine Figuren rasch in geschlossenen Räumen zu versammeln, wo sie sich in endlosen dialogischen Erörterungen ergehen.

Ein Abend wie Quecksilber

Es wäre aufschlussreich gewesen, wie sich der Roman an der Phantasie des jungen bulgarischen Schriftstellers Dimitré Dinev gebrochen hätte, von dem die ursprüngliche Fassung stammt. Doch Andrea Breth verzichtete auf dessen Dienste wie leider auch auf die eines Dramaturgen.

Natürlich ist diese große Anwältin der Literatur nicht die Regisseurin für einen aufgerissenen Abend. Doch sie versucht sich im ersten Durchgang des dreiteiligen Abends an einem Bildertheater, das die Schauspieler in elementare Ausdrucksgebärden bannt. Am besten gelingt dies noch Corinna Kirchhoff in der Rolle der zu einer einzigen Schmerzensikone geronnenen Marmeladowa.

Erst im zweiten und dritten Teil, da der Rhythmus sich beruhigt, kommen die Schauspieler besser zur Entfaltung. Erich Wonder bietet nun ein völlig neues, diesmal gebautes Bühnenbild mit einer dekonstruktivistischen Raumskulptur vor Wänden aus gewelltem Packpapier. Zuvor hatte er mit gemalten Prospekten eher dem magischen Realismus gehuldigt.

Spielweise zu getragen

Doch die pastosen Raumbilder, vor allem aber die historischen Kostüme, die den von Jens Harzer gespielten Raskolnikow mit fleckiger Steppjacke und Russenmütze pittoresk ausstatten, sprechen eine andere Sprache als Breths avancierte Regie. Und auch die Spielweise ist zu getragen und ausgestellt, um sich dem Surrealen zu öffnen.

Da bleiben Elisabeth Orths Mutter und die von Marie Burchard gespielte Schwester letztlich ebenso blass wie die zum Anmutshascherl abgehärmte Sonja der Birte Schnöink. Während Udo Samel den Ermittlungsrichter zum väterlichen Freund und damit aufs Sonore herunterdimmt, gibt Sven-Eric Bechtolf mit gestützter Emphase als dandyhafter Frauenverderber Swidrigajlow den Erzdiaboliker alter Schule.

Nur Jens Harzer bringt einen anderen Ton ins gedämpfte Spiel, schlägt gleichsam ein Loch in die Oberflächen, durch das alles falsche Theaterpathos abfließen kann, was die Zuschauer erleichtert zum Lachen reizte. Doch es ist vergebliche Mühe; auch Harzers direktere Dringlichkeit kann nicht den Zusammenhang stiften eines Theaterabends, der wie verschüttetes Quecksilber in lauter Tropfen zerspringt, die sich sofort in sich zusammenziehen.

© SZ vom 28.07.2008/dmo - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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