Fantasy:Der Nimmertote von Whitley Bay

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Die letzte Lebensperle ist der größte Schatz für einen Jungen, der seit 1000 Jahren immer 11 bleibt und der endlich normal sterblich werden will.

Von Siggi Seuß

Alles ist da, was Zweifel am Wahrheitsgehalt der Geschichte beseitigen hilft, wenn man mit Google Maps die Feinheiten heranzoomt: Newcastle upon Tyne. Die Mündung des Flusses in die Nordsee. South Shields, wo alles anfing, damals, im Jahr 1014. Whitley Bay, wo in Ross Welfords Roman "Der 1000-jährige Junge" die drei Helden leben, Alfie und Aidan und das Mädchen Roxy, alle so um die elf Jahre alt.

Ja, sogar Coquet Island existiert, die geheimnisvolle Insel vor dem Küstenort Amble. Dort, wo versteckt in einem mit Schafwolle ausgepolsterten Kästchen, ein unglaublicher Schatz lagert: die letzte Lebensperle, die, wenn man ihre bernsteinfarbene Flüssigkeit in eine offene Wunde träufelt, ewiges Leben ohne Alterung ermöglicht, sofern man nicht höherer Gewalt zum Opfer fällt oder eines unnatürlichen Todes stirbt. Jetzt gibt es nur noch eine Perle. Und die bräuchte Alfi, der Nimmertote, wenn er wieder ein Normalsterblicher werden wollte.

Woher das die Leser wissen? Weil sie - in der vorzüglichen Übersetzung von Petra Knese - gebannt den wechselseitigen Erzählungen von Alfie und Aidan, ja, man kann fast sagen: lauschen. Alfie nämlich, der früher Alve hieß, ist in höchster Not. Er möchte nicht länger - wie seine soeben bei einem Brand gestorbene Mam - ein Nimmertoter sein. Wie er glaubt: der letzte dieser Art. Er möchte mit seinen neuen Freunden alt werden. Als Elfjähriger hat er sich einst die Lebensflüssigkeit ins wunde Fleisch gerieben und seinen Kater versehentlich der gleichen Prozedur unterzogen. Mutter und Sohn und Kater - der Vater kam unter ungeklärten Umständen ums Leben - wanderten mehr schlecht als recht durch die Jahrhunderte, durch Kriege und Friedenszeiten. Immer auf der Flucht vor Entdeckung ihres Geheimnisses. Dass sie dabei auch Personen der Weltgeschichte nahekamen - keine Frage. Charles Dickens, zum Beispiel, hat "dem lieben Alve" sogar die komplette Erstausgabe seiner Werke signiert.

Warum diese ausführliche Beschreibung der unglaublichen Vorgeschichte? Weil sie der britische Autor so glaubhaft in den ganz normalen Alltag von Heranwachsender in Whitley Bay integriert, dass selbst fantasyferne Leser das Buch bis zur letzten Seite nicht aus der Hand legen wollen. Es duftet gleichermaßen nach Schafskäse, Seehundfellen und Schiffsteer wie nach Bohnerwachs in britischen Schulfluren und Fish and Chips im nächstgelegenen Hafenpub. Ross Welford erzählt mit Witz, Weisheit und Liebe für seine Charaktere von den Nöten Elfjähriger, denen auch ein tausendjähriger Junge nicht entgeht. Egal, ob er über die Blüten des Geschichtsunterrichts den Kopf schüttelt oder dem Wüten von Fieslingen ausgesetzt ist: Er muss seine unendliche Lebenserfahrung stets im Zaume halten. Von den Mühen, der Umgangssprache im 21. Jahrhundert und der Bedienung eines Smartphones gerecht zu werden, ganz zu schweigen.

Bei so viel unerwarteten Querverbindungen zwischen Mittelalter und Moderne, zwischen uralten Ängsten und frischgebackenen Bedürfnissen, darf am Ende ein dramatischer Showdown auf den Klippen von Coquet Island nicht fehlen. Dort also, wo seit tausend Jahren die letzte Lebensperle versteckt liegen sollte. (ab 10 Jahre)

Ross Welford: Der 1000-jährige Junge. Aus dem Englischen von Petra Knese. Coppenrath Verlag, Münster 2019. 384 Seiten, 16 Euro.

© SZ vom 21.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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