Erfundene Biographien:Gut gefälscht ist halb gewonnen

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Wir lesen ihre Geschichte und leiden mit: Ob Kindersoldaten, Drogenabhängige oder KZ-Überlebende - Biographien verkaufen sich gut. Nun drängen immer mehr Fälschungen auf den Markt, die schlichtweg erfunden sind.

Burkhard Müller

Eine junge Frau flieht aus Jordanien, nachdem ihre beste Freundin einem Ehrenmord zum Opfer gefallen ist und sie sich selbst tödlich bedroht sieht. Ein junger Mann verpfuscht sein Leben mit Drogen, Alkohol und Gewalt, gerät immer wieder ins Gefängnis, schleppt sich dahin zwischen Ozeanen aus Blut und Erbrochenem. Ein kleines jüdisches Mädchen, dessen Eltern schon abtransportiert worden sind, schlägt sich auf eigene Faust Tausende von Kilometern weit durch das von Nazis beherrschte Europa und wird von Wölfen beschützt und ernährt.

Diese drei Personen haben etwas gemeinsam: Sie schreiben ihre Geschichte auf, das Buch wird zum Bestseller - und jede Silbe darin ist erstunken und erlogen. Es handelt sich bei der Jordanierin Norma Khoury, die in Wahrheit seit ihrem dritten Lebensjahr in den USA aufgewachsen ist, bei James Frey, der es nur ein einziges Mal nachweislich mit der Polizei zu tun bekam und dort zu seiner Schande durch seine höfliche Art auffiel, sowie bei Misha Defonseca, einer Belgierin ohne einen Tropfen jüdischen Bluts in den Adern, keineswegs um Einzelfälle.

Da sind ferner Margaret B. Jones, angeblich im Gangland von Los Angeles unter markerschütternden Bedingungen großgeworden, J.T. Leroy, der vortäuschte, sich als HIV-positiver Jugendlicher mit Prostitution durchgeschlagen zu haben, und Vicki Johnson, die ebenfalls mit einer erfundenen Story von der Nachtseite der Gesellschaft Aufsehen erregte.

Auch hierzulande hat es Vergleichbares gegeben; man denke an das Buch von Senait Mehari, die von ihrem Vorleben als Kindersoldatin in Eritrea erzählte, an die vorgetäuschte Existenz Ulla Ackermanns als Kriegskorrespondentin in Afrika, an Benjamin Wilkomirski, der als Kind Auschwitz überlebt haben wollte, während er in Wahrheit aus seinem Schweizer Dorf nicht hinausgekommen war. Man staunt, wie leicht sie alle Glauben fanden.

Wenn ein Publikum von einer Viertelmillion sich hinreichend für jordanische Verhältnisse interessiert, um ein Buch darüber zu kaufen und zu lesen, wird da keiner unter ihnen stutzig, wenn Jordanien eine gemeinsame Grenze mit Kuweit haben soll, wo doch der ganze Irak dazwischen liegt? Der Leichtigkeit des Glaubens entspricht die Schwierigkeit der Desillusionierung. Nicht nur die Verfasser, auch ihre Leser wichen nur zäh, schrittweise und ausgesprochen widerwillig vom Wahrheitsanspruch dieser Fiktionen zurück; sie mussten etwas herausgeben, was sie ganz offenbar als ihr Eigentum ansahen.

Wo Jordanien an Kuweit grenzt

Der Betrug stellt ein besonderes Delikt dar. Anders als Raub oder Diebstahl, bei denen dem Opfer eine rein passive Rolle zufällt, ist dessen aktive Beteiligung beim Betrug unerlässlich, sonst kommt der Vorgang - man möchte fast sagen, das Geschäft - nicht zustande. Wie man das Opfer so weit hat bringen können, dass es mitmacht, weckt immer Interesse; und der Betrüger mag neben dem Räuber der verächtlichere Typ sein, der fesselndere ist er allemal.

Besser als das schwerfällige Deutsche hält das Englische diese schillernde Mischung aus Gemeinheit und Amüsantem fest, wenn es von "fake" und "hoax" spricht. Für die erwähnten fabrizierten Storys gab und gibt es unverkennbar einen gierigen Markt; so gierig, dass die Frage nach dem Wahrheitsgehalt gar nicht erst gestellt wurde, jedenfalls nicht von den Verlagshäusern, die sämtlich blind ins Verderben rannten.

Es sind immer "Wir-alle"-Geschichten. Sie berichten von Geschehnissen, die dem Erfahrungsbereich des Lesers eher fernstehen, ihm aber das ebenso unbestimmte wie dringliche Gefühl eingeben, dass sie auch ihn betreffen und eine Schande für jeden Einzelnen sind. Diese hilflose Empfindung bringt unglaublich viel Heuchelei und heiße Luft in die Welt; sie zu hegen und zu kultivieren bildet die Kernkompetenz des Gutmenschen in seinem verpönten Sinn.

Doch sollte man ihr die Vagheit und Konsequenzenlosigkeit nicht allzu heftig vorwerfen; denn es ist tatsächlich schwer, etwas Genaues über eritreische Kindersoldaten herauszufinden, und noch schwerer, etwas dagegen zu tun. Und Dinge, die in der Vergangenheit liegen, lassen sich ohnehin nicht ungeschehen machen. Symbolisches Handeln, nützlicher dem, der es vollbringt, als dem, den es meint, ist oft das Einzige, das sich tun lässt.

Dieses Missverhältnis erzeugt ein Bedürfnis nach Entsühnung. Die Entsühnung gehört dem archaischen Rechtsleben an, sie ist von den Zielen der Strafe, der Abschreckung, der Wiedergutmachung, der Wiedereingliederung getrennt zu halten. Zu unterscheiden ist sie auch von der ähnlich klingenden Versöhnung. Die Entsühnung geschah in alter Zeit in der Weise, dass derjenige, der Schuld auf sich lasten fühlte, sich vor einem Fremden, dem er Autorität zutraute und der oft gar nicht wusste, was der Andere angestellt hatte, zu Boden warf und die Vornahme bestimmter gemeinsam ausgeführter Rituale erflehte; das wird etwa bei Herodot geschildert.

An solchen Ritualen besteht heute ein empfindlicher Mangel. Aber die schlimmen Dinge lesen und davon erschüttert sein ist eins. Wichtig bei der Entsühnung ist, dass keine Vermittlung zwischen den Beteiligten statthat, sondern sie einander körperlich berühren. Reportage, Interview, Ghostwriter, obwohl sie den Sachverhalt doch eigentlich genauso ans Tageslicht befördern könnten, gelten als unzulässig, denn auf Präsenz und Teilhabe kommt es an, nicht auf die bloße Information. Ein Buch ist ein Körper, es kann von Tränen benetzt werden. Weinend bot Oprah Winfrey das Werk von James Frey ihren Zuschauern dar, das war die Empfehlung, die einschlug; dreieieinhalb Millionen Exemplare gingen daraufhin über den Ladentisch.

Der Erfolg der entsühnenden Prozedur ist dabei vorab in die Buchform eingesenkt. Wer umgekommen ist, schreibt keine Bücher, nur der Entronnene vermag es. Und indem er es tut, stellt er uns in Aussicht, es könnte, wenn wir das Buch kaufen und lesen, alles wieder gut werden, für ihn wie für uns.

Allerdings liegt die Wahrscheinlichkeit, dass uns eine solche Flaschenpost von den absoluten Rändern der Welt auf direktem Weg erreicht, sehr niedrig; zu den erheblichen Nachteilen im Leben eines Kindersoldaten oder einer unterdrückten Muslimin gehört es, keinen Zugang zur globalen Öffentlichkeit zu haben, vielleicht nicht einmal schreiben zu können. Dem sieht man nicht gern ins Auge. Und hier eben hat die Lust, sich betrügen zu lassen, samt der spiegelbildlichen Versuchung, es dann auch zu tun, ihren Ursprung.

Schadenersatz für Schüchterne

Wenn sie erwischt werden, reagieren die Männer mit Trotz, die Frauen brechen in Tränen aus. Reue ist jedenfalls nicht ihr vorherrschender Affekt. "Außer meinem Großvater", gab das falsche jüdische Wolfskind Misha Defonseca zu Protokoll, "habe ich Alle gehasst, die sich um mich gekümmert haben. Sie haben mich immer so behandelt, dass ich mich anders gefühlt habe. (. . . ) Ich habe mich immer jüdisch gefühlt. (. . . ) Es ist nicht die wahre Wirklichkeit, aber es ist meine Wirklichkeit." Frey, dem die wütende Oprah im Genick saß, verlautbarte: "Lasst die Hasser hassen, lasst die Zweifler zweifeln, ich stehe hinter meinem Buch und meinem Leben, und" (ein langes "und", möchte man einfügen), "ich werde diesen Bullshit keiner weiteren Antwort würdigen."

Und haben sie nicht recht? Sie haben der Welt für einen sehr mäßigen Preis ein sehr großzügiges Angebot unterbreitet. Dazu enthält die Vor- und Nachgeschichte dieser Fakes häufig Storys, die fetziger sind als die etwas vorhersehbaren getürkten Geschichten selbst. Die Autorin, die hinter J.T. Roy und seinem Werk "The Heart Is Deceitful Above All Things" steckt, lässt die Halbschwester ihres Lebensgefährten mit Sonnenbrille und Perücke auf Lesereise gehen, wobei der/die Vortragende wegen angeblicher Schüchternheit nicht am, sondern unter dem Tisch sitzt. Niemand bemerkt, dass dieser Mann eine Frau ist.

Noch bevor die Ente auffliegt, bekommt Misha Defonseca gerichtlich 22,5 Millionen Dollar Schadensersatz zugesprochen, den ihr Verlag ihr bezahlen soll, ausdrücklich nicht nur wegen der finanziellen, sondern auch der emotionellen Schäden, die sie erlitten hat - darf sie das Geld behalten, oder wird sie es zurückgeben müssen, weil das Seelenleben einer Betrügerin kein schützenswertes Gut darstellt? Frey geht gegen die verleumderischen Behauptungen vor, er sei immer ein ganz braver Junge gewesen: Werden die Gerichte seinen schlechten Ruf retten? Da stecken jedenfalls reichlich Stoff für juristische Examina und mehr als ein Schtonk-Film drin!

© SZ vom 17.3.2008/ehr - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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