Endlich Zeit für . . .:Au revoir, Realität

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Lionel Cottet und Jorge Viladoms' Sehnsuchtsalbum

Von Rita Argauer

Sehnsucht ist ein starkes Gefühl. Besonders wenn sie sich auf etwas richtet, was nicht zu bekommen ist. Praktisch ist das sehr gut mit dem Album "From Latin America To Paris" (Sony) zu erleben. Dafür hat sich Lionel Cottet, Solocellist im Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks, mit dem mexikanischen Pianisten Jorge Viladoms zusammengetan und Werke der aufkommenden Moderne aus Frankreich und Lateinamerika eingespielt.

Auf dem Cover laufen die beiden einig am Eiffelturm vorbei, auf der CD selbst ranken Jugendstil-Ornamente, womit auch der ästhetische Rahmen dieser Reise abgesteckt wäre. Die Sehnsucht richtet sich hier auf die Zeit des Fin de Siècle; ein Lebensgefühl, das so entschwunden wie verwunschen ist. Mit schwer bekannten Stücken wie dem "Schwan" aus Saint-Saëns' "Karneval der Tiere" oder Faurés "Elégie", op. 24 zeigt sich das Album beim ersten Hören zunächst als perfekter Sehnsuchts-Soundtrack. Grauer Winter in Deutschland, neue Sondierungsgespräche für die Große Koalition und auch eine unübersichtliche weltpolitische Lage? Man legt die CD ein und sagt der Realität für eine Stunde Au revoir.

Doch die Wirklichkeitsflucht ist so sehnsüchtig wie schwindsüchtig, denn lange hält sie nicht. Schon gar nicht mit diesem Album: In diesem Repertoire steckt weit mehr als schmerzlose Nostalgie. Denn Sehnsucht, Neugier und die Lust am Bruch mit dem Tradierten trieben etwa den gerade 16-jährigen Heitor Villa-Lobos, als er noch vor seinem Studium in Paris jahrelang quer durch Brasilien reiste und authentische traditionelle Gesänge sammelte, die zur Inspiration für sein späteres Werk wurden. Sein "Gesang des schwarzen Schwans" bildet so ein herrliches Gegenstück zu Saint-Saëns berühmter Vogelvertonung. Die Cello-Stimme hat bei Villa-Lobos weniger Sentiment, sammelt sich auf Tönen, die den Hörer nicht so schnell in die emotionale Erfüllung tauchen. Cottet spielt das leicht zurückgenommen, er lässt sich nicht fallen, sondern behält trotz seines nahbaren und schmeichelnden Klangs eine durchsichtige Klarheit.

Ganz anders ist der Blick des mexikanischen Komponisten Manuel Ponce auf die Musik des alten Europa. Seine Sonate für Cello und Klavier und das "Estrellita" orientieren sich an den europäischen Musiktraditionen, nutzen diese ohne die Abgrenzungsmanöver, die seine europäischen Zeitgenossen zur Tradition suchten. Mit Ravels bestechend kühl musziertem "Pièce en forme de Habanera" liegt dann der rhythmische Einfluss lateinamerikanischer Tänze in Europa offen, in Piazzollas "Oblivion" wird das Cello genauso zum geräuschhaften Rhythmusinstrument wie im zweiten Satz von Debussys Sonate für Cello und Klavier, in der wiederum ebenfalls ein Hauch Habanera liegt.

Cottet und Viladoms beleuchten die musikalischen Verschränkungen zweier Kontinente dabei nicht wertend, sondern als Beobachter. Dabei bleiben sie so neugierig, wie die Komponisten, die das Fremde schätzten und dringend benötigten, um Musik zu erschaffen, die aus heutigem Standpunkt zauberhaft elegant klingt. Eine solche Haltung in die Gegenwart zu importieren, dürfte künstlerische Überraschungen bereithalten, die die kühnsten Sehnsüchte übertreffen.

© SZ vom 09.01.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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