Emotionale Kluft:Deutsche, Juden, Israel

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Schon lange waren die Bundesrepublik und Israel nicht mehr so weit voneinander entfernt wie heute, im Gedenkjahr 2005, in dem sich das Ende des Zweiten Weltkriegs zum sechzigsten Mal jährt. Nicht offiziell und diplomatisch, wohl aber in ihren Gefühlen und mit Blick auf die Vergangenheit.

Von Gustav Seibt

Die deutsche Befassung mit der nationalsozialistischen Erblast hat in den letzten Jahren eine unübersehbare Verschiebung erfahren. Während bis in die späten neunziger Jahre - zwischen Historikerstreit und Wehrmachtsausstellung - der Blick auf die Verbrechen und ihre Opfer vorherrschte, sind nun die eigenen Verluste in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit getreten.

Luftkrieg, Vertreibungen, Vergewaltigungen; der Verlust ganzer Landstriche, die einmal Heimat mit langer Geschichte waren, die Zertrümmerung von Stadtkernen und Kunstdenkmälern, das unverrechenbare persönliche Leid der Millionen Verjagten, Verhungerten, Obdachlosen, sexuell Missbrauchten - all das ist seit der unmittelbaren Nachkriegszeit nicht mehr so intensiv erzählt, dokumentiert und besprochen worden.

Geschichte wieder lesbar

Fernsehserien mit Originalfilmen und sichtlich bewegten Zeitzeugen, Bestseller wie das Tagebuch der Berliner Anonyma und Jörg Friedrichs Bombenkrieg-Buch "Der Brand" haben ein dichtes historisches Bewusstsein für den Untergang des alten Deutschland in einer selbstverschuldeten Katastrophe geweckt.

Das so lange geschichtslos wirkende Land mit seinen mienenlosen Wiederaufbaufassaden ist so in der jungen Berliner Republik wieder historisch lesbar geworden: Hinter der Kahlheit der Fußgängerzonen lässt sich auf einmal wieder eine frühere Physiognomie ahnen, die schöner und vielfältiger war und nicht immer schuldig.

Eifrig reisen alte und junge Deutsche in die verlorenen Provinzen im heutigen Polen, nach Schlesien und Ostpreußen. Erfolgsfilme wie "Der Untergang", die Erinnerungen der Führer-Sekretärin Traudl Junge, der Napola-Film bieten riskante, nachdenklich stimmende Innensichten.

Noch liegt der Fokus auf dem katastrophalen Ende. Heikel könnte es werden, wenn ein Spielfilm einmal einen jungen, sympathischen und verzweifelten deutschen Arbeitslosen des Jahres 1932 zeigen würde, der in die SA eintritt, wo er dann nicht nur zackige Lieder schmettert, sondern auch das Gefühl guter Gemeinschaft erfährt.

Die Täter sterben aus

Unverkennbar ist bei den Deutschen im Verhältnis zu sich selbst ein emotionales Eis gebrochen. Wer heute noch von exklusiver Schuldbesessenheit fabelt, der verfehlt die aktuelle Wirklichkeit. Dabei ist all das für sich genommen noch nicht illegitim. Im Gegenteil könnte trauernde Wahrnehmung der eigenen Verluste durchaus die Empathie für fremdes Leiden befördern und so zur Wahrhaftigkeit auch in den Schuldgefühlen beitragen.

Verständnis für die Verstrickungen der Großväter mag auch zu aktueller politischer Vorsicht führen - durch den Abbau von moralischer Überheblichkeit. Zudem stirbt die letzte Generation der Täter derzeit aus; gegen wen sollte sich die moralische Anklage noch richten?

Ganz anders sieht es auf der Seite der Opfer, sowohl bei den jüdischen Deutschen wie auch in Israel aus. Die letzte Generation der überlebenden Opfer ist naturgemäß viel jünger. Das unerträgliche Leid der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik hat zudem einen viel festeren Familien- und Erinnerungszusammenhang geschaffen als bei den in moralischen Generationenkonflikten bestens geübten Deutschen.

Dazu kommt der aktuelle, oft blutige Kampf Israels gegen den Terrorismus und die damit einhergehende Kritik aus Europa. Ein echter antisemitischer Bodensatz zeigt sich vital und gewaltbereit, vor allem aber infiziert er auch gebildete Schichten im pazifistischen Deutschland, die ihre Lektion aus Auschwitz gelernt zu haben meinen.

Wer versucht, sich das derzeitige Bild von Deutschland in jüdischen oder israelischen Augen vorzustellen, der sollte Verständnis für jeden Grad an Befremdung gewinnen. Da ist ein Land mit florierender NPD, welche die parlamentarische Immunität für Geschichtslügen und die Beleidigung der Opfer nutzt, ein Land, das in Reminiszenzen seines Untergangs schwelgt und in dem jeder zweite wohlmeinende Bürger ganz genaue Ansichten von der israelischen Unterdrückung der Palästinenser hat. Dabei handelt es sich, durch den unvermeidlichen Zusammenhang in einer Geschichtsnation, immer noch um das Land, welches Auschwitz zu verantworten hat.

Nationales Gesamtschicksal

Die Deutschen haben letzthin die Höhe eines tragischen Geschichtsbewusstseins erklommen, in dem die Katastrophe des Nationalsozialismus in all ihren Aspekten fühlbar geworden scheint. Sie übernehmen weiterhin alle gebotene moralische Verantwortung, doch umwittert von einem erschütternden nationalen Gesamtschicksal.

Israel dagegen kämpft immer noch im Staube um sein Überleben. Es macht sich Tag für Tag die Hände schmutzig in einem blutigen Guerrillakrieg. Juden, die bei besonderen Anlässen wie der Ausstellung der Flick-Collection ihre Empörung zeigen, erscheinen als unversöhnliche Störer. Dabei hat Deutschland doch das Bekenntnis zu seiner Schuld offiziell in den Grundbestand seiner Identität aufgenommen; im Mai wird das größte Opfermahnmal der Welt eröffnet. Was will man mehr?

Der Graben, der sich hier auftut - ergriffene Selbsthistorisierung auf der einen Seite, fortdauerndes Trauma und Erbitterung auf der anderen - wirkt auch wie eine grausame Naturnotwendigkeit: Täter, selbst wenn sie besiegt und verletzt wurden, gesunden leichter und schneller als Opfer; und diese empörende Asymmetrie zählt immer noch zu den Folgen der bösen Tat.

Farblos, aber solide

Vor dem Hintergrund dieser bitteren Wirklichkeit muss man dem Bundespräsidenten für seine gelungene Reise nach Israel, nicht zuletzt seinen Auftritt in der Knesset, dankbar sein: für die glaubhafte Erschütterung, mit der er ein paar Sätze seiner Rede vortrug. Horst Köhlers Worte waren zwar farblos, sein Auftritt war es nicht.

Er sagte das, was die Opfer, ihre Verwandten und Nachfahren unbedingt hören müssen: dass Deutschland seine Verantwortung für die Vergangenheit unverbrüchlich annimmt. Das ist konventionell, aber es ist eben dieses Konventionelle, was Israel auf jeden Fall erwarten durfte. Nicht konventionell war der Habitus des Redners, sein Ausdruck. Er zeigte mehr, als Worte sagen können, was bei einem so heiklen Anlass nicht das Verkehrteste ist.

Mit dem Jahr 2005 wird auch die Konzentration der Erinnerung auf Brand, Untergang und Vertreibung vorübergehen. Die nüchterne historische Aufklärung geht weiter. Sie wird, so viel ist jetzt schon abzusehen, in den kommenden Jahren den Zusammenhang von Nationalsozialismus und Sozialstaat, von Verfolgung und Volksgemeinschaft, von Weltkrieg und massenhaftem Profiteurstum in den Vordergrund rücken, kurz, das Dritte Reich als Konsensstaat. Das wird die Gewichte zwischen Tragik, Schuld und Moral wieder zurechtrücken.

© SZ vom 05.02.2005 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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